Theorien zur Entstehung von Gewalt

[Erg. Baby Boomer, "youth bulge" nach Heinsohn]

Gesellschaftliche Faktoren

Als Günther Beckstein zu der Frage der Abschiebung krimineller "Jugendlicher mit Migrationshintergrund" Stellung nahm, äußerte er, daß in der veränderten Umgebung viele der Abgeschobenen nicht mehr kriminell seien. Logisch wäre hier die Frage, ob es dann nicht in Deutschland genauso auch pathologische Umstände gibt, die Kriminalität begünstigen. Dazu nahm Beckstein allerdings keine Stellung, da eine solche Fragestellung der politischen Ideologie, daß es etwa "keine unterprivilegierten Kinder" gebe - dereinst hatte sich der Bayerische Rundfunk mit dieser Begründung gegen die Ausstrahlung der "Sesamstraße" gewehrt -, vollkommen widerspricht. Im folgenden soll versucht werden, gerade diese Fragestellung zu untersuchen.

Als Grundlage dafür kann etwa die Erklärung der Kontextfaktoren dienen, die als Erklärungsansätze für die Jugendgewalt in den französischen Banlieus angeführt wurden. So wurden u.a. die herrschende Armut, erlebter Rassismus und fehlende Integrationsmöglichkeiten, mangelnde Chancengleichheit, Arbeitslosigkeit, Langeweile und die jahrzehntelange Untätigkeit und Gleichgültigkeit der Politik gegenüber den realen Erfordernissen genannt, die erst zu diesen Zuständen geführt hatten (vgl. Wikipedia:Unruhen in Frankreich 2005, abgerufen am 02.03.2008).

Langeweile/Arbeitslosigkeit

Bereits der altägyptische König Djoser (um 2700 vdZ) hatte sich anekdotisch mit dem Problem der Langeweile beschäftigt. Bedingt durch den vom Nil vorgegebenen Jahresrhythmus ergaben sich für die ägyptischen Bauern lange Perioden, in denen nur wenig Arbeit zu verrichten war. In diesen Zeiten beschäftigten sie sich insbesondere mit der Austragung von Streitigkeiten, die manchmal in regelrechte Kleinkriege ausarteten. Nach dieser Sicht habe der König den Bau seines Grabbezirks angeordnet, der mit der Stufenpyramide auch eine wichtige Vorform der berühmten altägyptischen Pyramiden umfaßt, um den Bauern Beschäftigung zu geben und gleichzeitig den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu fördern (vgl. Wikipedia:Djoser-Pyramide, abgerufen am 05.02.2008).

Auch in der heutigen kriminalistischen Forschung wird davon ausgegangen, daß es gewisse Zusammenhänge zwischen Arbeitslosigkeit und Kriminalität gibt, die ggf. auch kausal zu interpretieren sind.

Miedema (1997) zeigte mit seiner Analyse junger Erwachsener, daß zumindest für bestimmte Gruppen von Arbeitslosen die Arbeitslosigkeit kausal für die Aufnahme von Straftaten ist. Dazu zählen etwa Angehörige traditioneller "Arbeitermilieus"; Angehörige niedriger sozialer Schichten, die nur eine geringe Schulbildung haben und die Schule mitunter ganz ohne Abschluß verlassen haben; Mitglieder anderer Gruppen als ihnen gegenüber privilegiert ansehen, was Haß z.B. gegenüber Ausländern provozieren oder eine Sicht aufwerfen kann, die Verbrechen als Möglichkeit zur Herstellung von Gerechtigkeit ansieht; oder die sich selbst ausgegrenzt und marginalisiert fühlen. Diese Gruppe machte etwa 35% der Befragten aus. An Miedemas Untersuchung ist allerdings die sehr kleine Stichprobe von insgesamt nur 28 Männern und 22 Frauen zu kritisieren, die nicht unbedingt verallgemeinerbare Daten liefert (vgl. S.400+409).

In verschiedenen Untersuchungen werden allerdings auch statistische Zusammenhänge zwischen Arbeitslosigkeit und verschiedenen Verbrechen reklamiert. In der Tendenz gehen dabei US-amerikanische Untersuchungen von stärkeren und deutlicheren Zusammenhängen aus als Untersuchungen in anderen Ländern (vgl. Edmark 2003, S.1f.). [Dies in Bezug auf Thome -- soziale Gerechtigkeit in diesen Ländern.] Edmark (2003), die insbesondere Eigentumsdelikte betrachtete, hält für die Entwicklung in Schweden, wo sich während der 1990er Jahre außerordentlich starke Veränderungen der Arbeitslosenquote (bis zu einer Vervierfachung) ergaben (vgl. S.8), einen Zusammenhang (Elastizität) von etwa 0.1 zwischen Arbeitslosigkeit und Delinquenz und von 0.19 zwischen dem Bezug von Sozialhilfe und der Delinquenz fest (vgl. ebd., S.13). Insgesamt wird hier ein vergleichsweise starker Zusammenhang bezüglich Einbruchsdelikten (El = 0.15), Autodiebstahl (El = 0.16) und Betrug (El = 0.22) festgestellt, während bezüglich Raub keine bzw. sogar eine schwache negative Beziehung besteht (El = -0.06) (vgl. ebd., S.17).

Allerdings mahnt Pilz (2003), daß auch der Versuch, den Alltag von Jugendlichen zu stark über ihre Köpfe hinweg zu strukturieren, da dies ebenfalls Gewaltakte - als Versuche von Jugendlichen, sich Gehör zu verschaffen - provozieren würde (vgl. S.12f.).

Soziale Beziehungen

Miedema (1997) sieht das Eingehen stabiler sozialer Beziehungen als einen entscheidenden Faktor, der das Abrutschen in eine kriminelle Karriere verhindern kann (vgl. S.402). Nach Edmark (2003) besteht eine Elastizität von 0.69 zwischen einer problematischen Familiensituation - insbesondere Scheidung der Eltern - und der Delinquenz von Jugendlichen (vgl. S.13).

Schulbildung

Edmark (2003) gibt für die entsprechende Elastizität einen Wert von -0.28 an (vgl. S.13).

Politik

In Deutschland war es seit Jahrzehnten Politik, in Deutschland lebende Ausländer als "Gastarbeiter" zu betrachten, die nur für eine gewisse Zeit in Deutschland bleiben und dann in ihre Heimatländer zurückkehren sollten. Entsprechend unterblieben ernsthafte Bemühungen, Ausländer zu integrieren. Daran hat sich in fünfzig Jahren nicht viel geändert, und mittlerweile lebt eine zweite und dritte Generation von Menschen in Deutschland, die noch immer als bloß geduldete "Gäste" gesehen werden. Jugendliche, die häufig ihre Heimat nur aus dem Urlaub kennen, werden noch immer nicht als Deutsche angesehen.

Als weitere Faktoren können Sozialabbau, Law-and-Order-Politik und Versuche der Stigmatisierung und Marginalisierung der sozial Schwachen bzw. der Jugendlichen betrachtet werden (vgl. Wikipedia:Unruhen in Frankreich 2005, abgerufen am 02.03.2008).

Persönliche Faktoren

Nach einer Untersuchung von Negt über Gewalttätigkeit von Schülern in einem alternativen Schulprojekt wird Aggressionspotential oft durch "Verengung", tief internalisierte (Lebens-)Ängste oder Verlusterfahrungen hervorgerufen. Aggression wird hier als ein mißratener Versuch gewertet, im weitesten Sinne eine Kommunikation mit Anderen aufzunehmen, die zuvor verweigert wurde (vgl. Pilz 2001b, S.16)

Weitere Faktoren

Interessant zu sein scheint aber, daß wider Erwarten mit einer höheren Bevölkerungsdichte auch die Verbrechensrate eher zurückgeht. Edmark (2003) gibt für diese Elastizität einen Wert von -1.3547 an (vgl. S.13).

Quellen zu diesem Abschnitt:

Edmark, Karin, "The Effects of Unemployment on Property Crime: Evidence from a Period of Unusually Large Swings in the Business Cycle", 2003

Miedema, Siep, "Sounding the depth. The relationship between unemployment and delinquency under young adult men" (Originaltitel: "Het peilen van de diepte: de relatie tussen werkloosheid en delinquentie bij jongvolwassen mannen"), 1997, URL http://irs.ub.rug.nl/ppn/154655066

Pilz, Gunter A. (2001b), "Judo - Chance in der Gewaltprävention?"

Pilz, Gunter A. (2003), "Gewalt: 'gesunde Reaktion auf eine krankmachende Gesellschaft?!' Es geht uns alle an: Gewalt und Gewalterfahrungen junger Menschen", Erweitertes Vortragsmanuskript für die Fachtagung "Facetten von Gewalt - Perspektiven für die pädagogische Arbeit mit Mädchen und Jungen" am 25. Juni 2003 in Steinfurt

--------- Ansonsten können vermeintliche "Lösungsstrategien" wie höhere Strafen kriminelle Jugendliche und junge Erwachsene kaum abschrecken (Miedema S.409f.).

Letzte Aktualisierung: 14.04.2008