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Martin Ebers

"Das halbe Bild"

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Gewalthaltige Computerspiele

"In der Politik gehören Aggressionen offenbar zum Tagesgeschäft."
(Krzysztof Wojchiechowski, Direktor des "Collegium Polonicum" in Slubice, in "Campus und Karriere", DLF, 26.05.2008)

"Wissen Sie heute muss ich an den öffentlichen Frieden denken. vor 40 Jahren auf dem Bau hätte ich einen Angriff auf meine Person mit der Dachlatte beantwortet."
(Holger Börner, 1931-2006, ehemaliger Ministerpräsident von Hessen, laut Wikipedia "Antwort auf Reporterfrage nach Bedrängung durch Demonstranten")

3. Brutalisierung durch die Politik und durch die Medienkritiker?

In der täglichen Diskussion finden sich andererseits zahlreiche Merkwürdigkeiten, die viele der Thesen, die Politiker ins Feld führen, um Gewaltdarstellungen zu bekämpfen, ad absurdum führen. Insbesondere möchte ich die These äußern, daß diese Haltungen der Politik Menschen durchaus die eigene Nutzung von Gewalt zur vermeintlichen Lösung ihrer Probleme nahelegt. Im folgenden werden einige dieser Punkte ausgeführt.

3.1 "Vermitteln einer gewalttätigen und gefahrvollen Welt"

Im Sinne der Medienkritik wird es als problematisch angesehen, wenn Medien die Welt als einen gefährlichen oder gewalttätigen Ort darstellen (vgl. Gugel 2007, Kap.4.3.5, S.20). Den Vorwurf, eben ein solches Weltbild zu vermitteln, müssen sich die Medienkritiker allerdings selbst gefallen lassen, indem sie etwa reklamieren, daß eine laufende Brutalisierung der Jugend stattfinde, oder - noch weitergehend - gleich auch propagandistisch die vermeintlich "wirklichen Schuldigen" benennen. Tatsächlich hatte Uwe Schünemann ja reklamiert, mit Hilfe von Christian Pfeiffers Forschungsinstitut beweisen zu wollen, daß Computerspiele für die vermeintlich "drastisch zunehmende Jugendgewalt" verantwortlich seien (vgl. "Niedersachsen beauftragt Kriminologen mit Überprüfung von Altersfreigaben für PC-Spiele", abgerufen am 20.05.2008). Da kann man dann schon einmal Korrelationen und Kausalitäten verwechseln oder den Untergang des Abendlandes an die Wand malen.

Nach verschiedenen Studien hat aber die Jugendkriminalität - insbesondere die jugendliche Gewaltkriminalität in den letzten Jahren abgenommen, zumindest aber nicht zugenommen (vgl. Trend: Jugendkriminalität in Deutschland nimmt ab (Meldung aus dem September 2007), abgerufen am 20.05.2008). .

3.2 Ein Exkurs zur staatlich ausgeübten Gewalt

Kinder und Jugendliche nehmen Nachrichten aus der Politik sehr wohl wahr und können dadurch auch in ihrem Empfindungen beeinflußt werden (vgl. "A Fiscal Lesson for the Ages", abgerufen am 05.10.2008). Daraus läßt sich entsprechend eine weitere Hypothese konstruieren, daß etwa die Außenpolitik eines Landes, z.B. der USA, und speziell dort deren Militanz, die die Gesellschaft selbst - nach innen wie nach außen - ausübt, entsprechenden Einfluß auf das "Problemlösungsverhalten" von Jugendlichen hat. So läßt sich zum Beispiel das Massaker in der High School von Littleton zeitlich in den vermeintlich "heldenhaften" Luftkrieg der NATO gegen Jugoslawien ("Kosovokrieg", vgl. Wikipedia: Kosovo..., abgerufen am 16.05.2008) im Jahr 1999 einordnen, der Amoklauf von Robert Steinhäuser in Erfurt 2002 in den "Kampf gegen den Terror" (vgl. Wikipedia: Kampf..., abgerufen am 17.05.2008). Zumindest hatte Steinhäuser - neben einer großen Faszination an physikalisch echten Waffen - ein sehr großes biographisches Interesse an Gestalten wie Osama bin Laden gehabt (vgl. ). Es kann die These geäußert werden, daß sich durch die Wahrnehmung solchen Verhaltens eine Verschiebung von Vorstellungen ergibt, was moralisch erlaubt ist, um Konflikte zu lösen. In der Schweiz oder in Finnland liegen die Schußwaffendichten auf einem ähnlichen Niveau wie in den USA. Jedoch sind die Mordraten - und erst recht die Zahlen von Amokläufen - deutlich niedriger als in den USA. Beide Länder haben sich allerdings nicht im Rahmen der sog. "Koalition der Willigen" am Krieg gegen den Irak beteiligt. Gegenstand einer eventuellen Auswertung wäre nun eine Aufschlüsselung, in wieweit möglicherweise die politische Haltung und Kultur einen Einfluß auf das Niveau an Gewalttätigkeit auch im Inneren hat.

Schindel (2005) arbeitete am Beispiel der Diktatur in Argentinien hier verschiedene Aspekte heraus. Diese Aspekte lassen sich - wenn auch in abgeschwächter Form - zum Teil in aktuellen politischen Diskursen in anderen Staaten und politischen Systemen wiederfinden (vgl. S.330):

a. Der Aufbau eines allgegenwärtigen "inneren Feindes" verbunden mit der Legitimation, diesen zu bekämpfen (vgl. ebd., S.326f.). Dadurch wächst möglicherweise die Bereitschaft, zum Beispiel eine von den Äußerern solcher Polemiken kritisierte Handlung schließlich tatsächlich als Ursache für herrschende Probleme anzusehen, dafür Bestrafungen explizit zu fordern und auch nicht mehr zu hinterfragen, ob eine solche Behandlung überhaupt noch verhältnismäßig ist oder rechtsstaatlichen Prinzipien folgt. Der Aufbau eines "inneren Feindes" realisiert sich etwa in dem Versuch von Seiten Günter Becksteins, Computerspieler als potentielle Kinderschänder oder Meuchelmörder zu assoziieren (vgl. ).

b. Dazu kommt die Suggestion einer vermeintlichen Häufung von Akten dieses "inneren Feindes", (vgl. ebd., S.328). Ein Beispiel hierfür ist etwa der Versuch der Medien und der konservativen Politik, mit Hilfe von einzelnen Fällen jugendlicher Gewalttaten eine Häufung eben dieser zu suggerieren, die praktisch vielleicht nicht einmal stattgefunden hat, und auf diese Weise mit fiktiven Zahlen Verschärfungen der Strafgesetze zu rechtfertigen.

c. Daneben gibt es aber auch fiktive Ausdeutungen. Damit verbunden ist entsprechend auch der Versuch, Rechtfertigungen für solche Maßnahmen zu konstruieren, die über das Problemfeld hinausgehen (vgl. ebd., S.329). Ein Beispiel hierfür ist die "Hexenjagd", worin das Argument geführt wurde, die einzelnen Personen, die man der "Hexerei" verdächtigte, seien Mitglieder einer generalstabsmäßig geplanten weltweiten Verschwörung, die die Gesellschaft aushebeln wolle. Die Einzelpersonen werden dadurch entpersonalisiert und lediglich zu Objekten, auf die sich das Handeln richtet (vgl. Winter 1998, S.6f.). In jüngster Zeit hatte Günter Beckstein versucht, die im Vergleich erhöhte Kriminalität junger Erwachsener bis 25 Jahre - eine Konstante der Kriminalistik, die sich in jeder Kriminalitätsstatistik seit Beginn der Aufzeichnungen findet - auf Computerspiele zurückzuführen und dadurch weitreichende Verbote zu erreichen ().

d. Dahinter steht möglicherweise auch ein Kalkül, mit dem die eigene - wenn auch fiktive - Argumentation abgesichert werden soll. Je (möglicherweise) gewalttätiger die Gegner - etwa die Computerspieler - dargestellt werden, desto weniger ausgeprägt ist die Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit deren Meinungen oder Einwänden, so möglicherweise gerechtfertigt diese auch sein mögen (vgl. Winter 1998, S.8f.). Auf diese Weise erzeugt man den Eindruck, daß es keine gültige und nicht böswillige Alternative zu der eigenen Deutung gibt.

e. Schließlich genannt wird die Verdinglichung und damit verbundene Banalisierung der Opfer staatlicher Gewalthandlungen (vgl. Schindel 2005, S.328). In Erinnerung ist etwa die Begrifflichkeit des "Kollateralschadens", womit zivile Opfer militärischer Auseinandersetzungen bezeichnet werden. Durch solche Begrifflichkeiten findet gewissermaßen eine gedankliche Abstumpfung gegenüber weiterer Gewalt statt, die sich möglicherweise auch auf das Gewalterleben in der unmittelbaren Umwelt und auf das eigene Gewalthandeln auswirkt.

3.2.1 Kriegsbeteiligung

Die Politik ist bestrebt, Szenarien zu erschaffen, die den Einsatz von Gewalt vermeintlich rechtfertigen. Der Innenminister konstruiert Szenarien einer angeblich akuten terroristischen Bedrohung, um Überwachungs- - und damit im Sinne der Postmoderne - letztlich auch Verhaltensbeeinflussungsmaßnahmen - zu rechtfertigen, und Außenminister und Kanzler(in) hatten in den letzten Jahren auch nichts Besseres zu tun, als der Öffentlichkeit deutsche Militärpräsenzen im Ausland schmackhaft zu machen: Entweder wurden Taten dabei gerechtfertigt (vgl. etwa den "Hufeisenplan") oder in ihrer Tragweite relativiert (deutsche Tornados würden ja nicht selbst schießen bzw. der deutsche ISAF-Einsatz finde nur im "ruhigen" Norden Afghanistans statt). Diese Rechtfertigungen waren häufig kontrafaktisch (es ist bis heute nicht bewiesen, daß ein "Hufeisenplan" existiert hat; ISAF ist von "Enduring Freedom" organisatorisch und technisch nicht mehr zu trennen.

3.2.2 "Dulce bellum inexpertis"

Nach einer Untersuchung von Brady+Matthews (2006) zeigen Personen, die größere Erfahrungen mit Computerspielen haben, tendentiell häufiger ablehnende Einstellungen gegenüber Gewalt (r=-0.13 bzgl. Befürwortung von Gewalt, vgl. S.345, Tabelle 2). Gleichzeitig ist aber die Regierung bestrebt, das Wissen darüber zu verwischen. Dazu paßt sinnigerweise auch das Vorhaben, Medien, die Gewaltdarstellungen enthalten, generell zu indizieren, um Jugendlichen möglicherweise auch die Möglichkeit zu nehmen, im Rahmen ihrer affektiven Bildung um die Konsequenzen gewalttätiger Handlungen zu erfahren.

3.2.3 Reflexpolitik

Auch bedient die Politik ihrerseits primitive Rachegelüste. Wie die Empörung über schockierende Gewalttaten kurzzeitig hohe Wellen schlägt und ein "hartes Vorgehen" gegenüber den "üblichen Schuldigen" gefordert werden, so finden sich immer Reflexpolitiker, die diese Gelüste bedienen. Dadurch rechtfertigen sie letztlich der Racheimpuls, der die Gesellschaft da treibt, und kann entsprechend auch der Frustrierte Gewalt als legitimes Mittel zur "Lösung" seiner Probleme ansehen.

3.2.4 Ausgrenzung von Computerspielern

Computerspieler, eine erheblich größere Gruppe als die der Schützen und Jäger, werden von Seiten der konservativen Medienkritiker bis hin zur Kriminalisierung ausgegrenzt. Solche Maßnahmen produzieren erst massive Gegengewalt.

3.2.5 "Angels of Columbine": Skizze einer Analyse

Auf der Internet-Seite "Angels of Columbine" findet sich eine Dokumentation verschiedener großer und kleiner Gewaltakte, die seit 1927 verübt wurden. Nun ist zwar fraglich, in wieweit diese Aufstellung vollständig oder auch nur repräsentativ sein, also einen korrekten Eindruck von der zeitlichen Verteilung solcher Gewaltakte vermitteln. Besonders bezeichnend ist aber, daß es zwischenzeitlich immer wieder Phasen gab, die durch eine im Vergleich sehr große bzw. sehr geringe Zahl an Gewaltakten gekennzeichnet waren. Diese Daten können in sofern einer Analyse unterzogen werden, als überprüft werden kann, ob diese Phasen in einem nachvollziehbaren und systematischen Zusammenhang zu besonderen zum Beispiel politischen Ereignissen stehen, die in den oben genannten Kontexten stehen.

a. Metaanalyse

[Monatsbasis.] Problematisch an einer solchen Analyse ist allerdings, daß auf Monatsbasis für kleinere Ereignisse nicht die Ursache von der Wirkung unterschieden werden kann, d.h. nicht klar ist, ob z.B. eine Forderung nach härteren Strafen das Resultat von begangenen Gewaltakten ist oder umgekehrt. Es ist allenfalls möglich, hier sehr große Ereignisse wie militärische Einsätze zu betrachten. Allerdings wird man nicht hoffen können, hier mehr als einen statistischen Erklärungsansatz zu finden, während perfekte Ursache-Wirkungen nicht zu finden sein dürften.

Ein erster Analyseversuch erstreckt sich entsprechend auf diese in den letzten Jahren besonders kritischen Ereignisse. Es wird die These aufgestellt, daß ein deutlicher Zusammenhang zwischen der Militarisierung der Politik und auftretenden Amokläufen und Gewaltakten festgestellt werde kann. So könnte man zum Beispiel auf die Idee kommen, einen zwischenzeitlichen Anstieg von Gewaltakten während des Jahres 1998 (die Monate März bis Mai stechen hier heraus, indem die Zahl solcher Taten in diesen Monaten doppelt bis dreimal so hoch war wie im Jahresdurchschnitt) in Zusammenhang mit militärischen Einsätzen gegen den Irak während des Frühjahrs in Einklang zu bringen. Zum Anderen steht der Amoklauf in Erfurt im Jahr 2002 auch in einem deutlichen zeitlichen und - wie Bösche+Geserich (2007) dokumentieren - auch in einem sachlichen Zusammenhang zur Bekämpfung der Taliban in Afghanistan seit Ende 2001. Ab dem Jahr 2003 stehen die USA zusätzlich im Irakkrieg. Besondere Anstiege der Gewaltakte an Schulen sind hier zeitlich in sofern mit diesem assoziiert, als mit einer Verzögerung von sechs Monaten ein extremer Anstieg der Gewaltakte an Schulen auftritt, der bis 2007 zu verfolgen und zwischenzeitlich mit einem Anstieg der Gewaltakte pro Monat auf bis zum Dreifachen des Wertes im selben Monat im Jahr 2003 assoziiert ist.

[Landesbasis.] Ansonsten läßt sich auch nachvollziehen, daß Gewaltakte an Schulen besonders in Ländern sehr ausgeprägt zu sein scheinen, die zur "Kriegskoalition" gehören. So werden im Vergleich sehr viele Fälle von schulischer Gewalt aus den USA, Kanada, Großbritannien und Australien dokumentiert.

Still to come: Tiefergehende Analysen?

3.3 Schießen als Schulfach

Vielmehr wird von vermeintlich berufener Seite (konservative Medienkritiker) versucht, Gewalthandeln, bei dem die Tötungshemmung im Unterschied zum Computerspiel real überwunden wird, als "gesellschaftlich akzeptierte Ertüchtigung" darzustellen und zu fördern. Der drastischste Vorschlag, der in diesem Kontext gemacht wurde, war es, "Schießen" als Schulfach zu institutionalisieren. Nach dem JACA-Modell werden Gewalttäter um so häufiger eine Schußwaffe gebrauchen, je mehr sie das Gefühl haben, mit einer Waffe umgehen zu können und im Zweifelsfalle an eine solche Waffe heranzukommen.

Ansonsten ist es nicht klug, in Jugendlichen eine Faszination an Waffen zu generieren, wenn Amokläufer sich i.a. durch eine exzessive Faszination an Waffen auszeichnen (vgl. Safe School Initiative 2001), oder Jugendliche zum Jagen mitzunehmen, der einzigen Sportart, bei der die Tötungshemmung in der Realität überwunden wird, nachdem man die vermeintliche "Abstumpfung" durch virtuelle Gewalthandlungen als den Grund angeführt hat, warum man Computerspiele verbieten müsse.

3.3.1 ...und dabei vermittelte Männlichkeitsnormen

Solche Sportarten vermitteln darüber hinaus bestimmte Männlichkeitsideale (vgl. "Schwule und Lesben ausgegrenzt"; "Traineransichten: Daum-Äußerungen verärgern Homosexuelle", abgerufen am 25.05.2008). Zumindest hat sich noch kein bekannter Fußballspieler als homosexuell "geoutet" (vgl. "Ein Outing wäre mein Tod", abgerufen am 26.05.2008). Werden solche Ideale verinnerlicht, ist die Wahrscheinlichkeit, zur Gewalt zu greifen, eventuell größer. Daneben kann auch eine Diskrepanz zwischen dem eigenen Selbstbild und dem zu adaptierenden Männlichkeitsideal zur Gewaltneigung beitragen. Bekannt ist etwa, da Personen, die besonders durch Homophobie und Gewalt gegen Homosexuelle auffallen, häufig eigene homosexuelle Neigungen besitzen, die allerdings im krassen Kontrast zu den Wertvorstellungen ihrer Umgebung stehen. Die Folge ist anscheinend ein massiver Selbsthaß, der sich dann im Haß gegen Andere entlädt. Es ist entsprechend wohl kaum zielführend, von den "Dünnarmigen" zu verlangen, sie sollen sich gefälligst ein paar Muskeln zulegen, damit sie selbst zurückschlagen können. Ansonsten stellt dies auch eine Verbiegung dar, die den Medienkritikern mit den Jugendlichen vorzunehmen wohl kaum zusteht.

3.4 Fortpflanzung der Probleme der Eltern

In vielen Fällen sind die Probleme bzw. die Reglementierung der Kinder Ausdruck von Problemen, die eigentlich die Eltern haben. Als Beispiele seien hier Berichte der Jugendpsychologin Barbara Diepold über verschiedene ihrer kleinen Patienten genannt, die gerade mit Aggressionen zu tun haben. Im Rahmen dieser Auseinandersetzungen wurde auch aufgezeigt, daß offenbar Aggressionen eine wichtige Komponente des menschlichen Persönlichkeitsbildes sind. Wenn auch ein Karthasis-Effekt nur unter bestimmten Bedingungen auftreten kann, so scheint doch das kontrollierte Ausleben und Aufarbeiten von Aggressionen dann auch einen sinnvollen Effekt zu haben.

Bereits vorgestellt (siehe I.) wurde der Fall eines sechsjährigen Jungen präsentiert, der von seinen Eltern durch deren Erziehungsmethoden, die der "Abhärtung" dienen sollten (so wurde der Höhenängstliche auf den Wohnzimmerschrank gesetzt), traumatisiert worden war, bis er schließlich die Befürchtung äußerte, er werde alsbald jemanden ermorden. Die Psychologin hatte ihm im Rahmen der Therapie die Möglichkeit geboten, sich in Gewaltphantasien zu ergehen (Diepold+Czierpka xx).

In einem anderen Fall berichtete sie von einem ihrer kleinen Patienten, der keine altersentsprechende Geschlechtsidentität besaß, daß dessen Eltern unverarbeitete Konflikte auf ihn übertrugen. Seine Mutter hatte ihm "Kriegsspielzeug" verboten, und dies war vielleicht auch der Grund, warum der Junge sich in der Therapie eine Spielzeugpistole ausgesucht hatte. Als der Junge sich einmal mit seiner Mutter einen "Spaß" erlauben und sie mit dieser erschrecken wollte, wurde an ihrer Reaktion darauf und späteren Gesprächen offenbar, daß die Mutter als Kind sexuell mißbraucht worden war. Im Freudschen Sinne hatte sie das "Kriegsspielzeug" als einen Phallus angesehen und dadurch, daß sie ihrem Sohn den Zugriff darauf verboten hatte, hatte sie unbewußt verhindern wollen, daß er später ebenfalls zu einem Mißbraucher würde. Dadurch hatte sie allerdings zu weit gegriffen, da der Junge sich auf diese Weise gleichsam faktisch "kastriert" gefühlt. Auch der Vater konnte dabei kein "männliches" Identitätsbild vermitteln, weil er als uneheliches Kind niemals den Namen seines Vaters erfahren hatte und dies als bleibende Lücke empfand, die sich auch auf den Umgang mit seinem Sohn auswirkte (vgl. Diepold 1995, S.111f.).

3.5 Schaffung von pathologischen Umgebungen

Im Rahmen einer politischen Talkrunde äußerte Günther Beckstein die Vorstellung, daß ausländische Straftäter, die man abschiebe, häufig genug danach keine Straftaten mehr begingen, als Argument für eine verstärkte Anwendung dieser Maßnahme. Der Umkehrschluß allerdings wurde von ihm nicht thematisiert, daß in Deutschland dann ja möglicherweise pathologische Umgebungen existieren mögen, die erst dazu führen, daß ausländische Jugendliche kriminell werden oder die zumindest die Entstehung von Kriminalität begünstigen - so etwa reizarmen und langweiligen "sozialen Wohnungsbau" und Perspektivlosigkeit.

Als ein Beispiel kann hier auf mannigfaltige Weise die Schule als ein pathogener Ort genannt werden:

a. In Deutschland ist die "soziale" Selektion, die Schüler nach ihrer Herkunft in unterschiedliche Schulformen einsortiert, sehr ausgeprägt. Niedrige Schulformen vermitteln Jugendlichen die Perspektive, die Gesellschaft habe sie abgeschrieben, und sorgen dafür, daß die Jugendlichen diese Vorstellungen tief verinnerlichen.

b. Allerdings haben auch höhere Schulformen mannigfaltige Probleme. So werden von Seiten der Medienkritiker (vgl. Baier+Pfeiffer 2007) etwa die Tageszeit zwischen 14 und 17 Uhr als "besonders wertvoll" betrachtet und fordern sie, deren Nutzung für schulbezogene Tätigkeiten zu institutionalisieren. Allerdings wird im Sinne der Lernbiologie gerade diese Tageszeit als eher unphysiologisch angesehen (vgl. ).

c. Daneben ist das Gesamtkonzept der Bildung fehlgeleitet. Bundesweit setzt sich das Abitur nach zwölf Schuljahren durch. Im Zuge dieser Umstellung wurde das Lernpensum bereits für die unteren Klassen sehr stark erhöht, so daß es heute auch schon für Sechstklässler üblich ist, den Tag von 7.30 Uhr bis 16 Uhr in der Schule zu verbringen. Effektiv stellt dies eine ganztägige Beschulung dar. Allerdings wird gerade die Umstellung der Bildung auf die Ganztagsschule - d.h. die Einführung eines Schulessens, von Ruhepausen und Hausaufgabenbetreuung in der Schule - von der Bildungspolitik häufig nicht thematisiert. Das Resultat für die Schüler ist eine starke Belastung, die auch dadurch noch eher vergrößert wird, daß die Möglichkeit eingeräumt wird, die Bildungsinhalte auch auf sechs Wochentage zu verteilen. Zu den Hausaufgaben kommen noch die von den Medienkritikern geforderten Freizeitaktivitäten wie Sportverein, Musikschule und Schützenverein. Die "Rechtfertigung", auch die Eltern müßten ja solange arbeiten, stellt desweiteren eben keine dar, da hier versucht wird, eine unphysiologische Pathologie durch eine andere zu erklären.

Freiräume von Kindern und Jugendlichen werden allerdings nicht nur dort beschnitten, sondern auch das Spiel: Die Welt der "Vorstadtkrokodile" existiert heute nicht mehr. In früheren Zeiten hätte sich kaum jemand dafür interessiert, wenn das Kind nach dem nachmittäglichen Fußballspielen ein verschrammtes Knie hatte. Heute müssen deren Eltern schon froh sein, wenn sie dann nur als "Rabeneltern" bezeichnet werden. Zimmern sich heute Kinder eine Bretterbude zusammen, wird diese recht schnell wieder beseitigt, weil sie nicht den Sicherheitsvorschriften genügt. So sind letztlich auch die "realen" Spielwelten der Kinder überreglementiert und uninteressant. Ihnen wird damit kaum eine Gelegenheit vermittelt, sich auszuagieren. Sie werden also hier als "kleine Erwachsene" angesehen und heute immer stärker "verplant" und damit unter Streß gesetzt. Diesen Umstand sieht Pilz (2001) als einen Grund für eine Neigung zur Aggressivität (vgl. ).

Parallel - und süffisanterweise diametral zu dieser "Überbehütung" von unter 18jährigen - sucht man aber sinnigerweise auch nach Wegen, um sich nicht weiter um sie kümmern zu müssen. So wurde etwa der Medienkritiker Hopf z.T. auch deshalb für seine Einlassungen kritisiert, weil er es als "Illusion" ansieht, den Eltern zuzumuten, sich mit den Lebens- und Unterhaltungswelten ihrer Kinder auseinanderzusetzen. Sondern diese müssen verboten werden (vgl. "Korrelationen, Beweise, Ursachen - alles derselbe Kram", abgerufen am 22.05.2008).

3.6 "Kulturelle Werte"

Gerade an einem Menschen, der Computerspiele verbieten will, wie Bayerns Günther Beckstein, läßt sich aufzeigen, daß die Politik uneindeutige - und damit gefährliche - Signale aussendet, was Güter angeht, die sie als "gefährlich" ansieht. Nicht nur, daß - wie oben räsoniert - diese Kritiker häfiger auch "passionierte Jäger" oder Schützen sind, die nichts dabei finden, in der Realität Lebewesen aus Sport zu töten, auch die Benutzung von Waffen nicht verkehrt finden, gleichzeitig aber den virtuellen Beschuß von Pixeln als Ende der Kultur ansehen. So wurde Beckstein auch damit zitiert, ein Erwachsener könne auf dem Oktoberfest binnen des sechs- bis siebenstündigen Abends auch durchaus zwei Maß (= zwei Liter) Bier trinken und danach noch mit dem Auto nach Hause fahren (vgl. "Beckstein hat wohl einen über den Durst getrunken", abgerufen am 23.09.2008). Vielleicht bin ich mit meinen 60 Kilo ja auch kein genügend "gestandenes Mannsbild", wie Beckstein es sich vorstellt. Allerdings hätte ich laut dem "offiziellen" Promillerechner des Oktoberfests am Ende des Abends einen Alkoholstand von 1.27 Promille. Damit wäre ich nicht mehr fahrtüchtig. Sogar schon bei 0.3 Promille kann es insbesondere bei "ungeüben Trinkern" zu alkoholbedingten Ausfallerscheinungen kommen, und auch die in Deutschland geltende 0.5-Promille-Grenze wird deutlich überschritten (vgl. Wikipedia: Promillegrenze, abgerufen am 23.09.2008). Die Äußerung war also nicht verantwortungsvoll. Und sie stellt ein fatales Signal für Jugendliche dar, die mit 16, 17, 18 ihrerseits alle schon so "gestanden" und erwachsen sein wollen.

Auch wäre es nachgerade arrogant, hier für alle seine "Untertanen" definieren zu wollen, was kulturelle Werte darstellt. So behauptete Beckstein in seiner Äußerung, das Trinken von Alkohol "gehör[e] zur Kultur" (vgl. "Beckstein hat wohl einen über den Durst getrunken", abgerufen am 23.09.2008), aber Rauchen z.B. nicht (vgl. "Bayerns Rauchverbot bestätigt - keine Änderungen, abgerufen am 23.09.2008). Im übertragenen Sinne würde das nämlich heißen, daß ein "Spielverderber" oder ein "schlechter Bayer" ist, wer nicht trinkt (vgl. etwa die Situation in Rußland, "Russland: Jeder dritte Russe trinkt sich zu Tode", abgerufen am 23.09.2008).


3.7 Aggressive Rhetorik in der politischen Auseinandersetzung

Bereits eingangs dieses Abschnitts wurde die Einschätzung des Politikwissenschaftlers Krzysztof Wojchiechowski zitiert, daß die politische Rhetorik durch eine zum Teil beängstigende Aggressivität gekennzeichnet ist. Politiker und Berichterstatter scheinen damit zu kalkulieren, daß durch eine solche Rhetorik bestimmte Haltungen, die möglicherweise latent vorhanden sind, abgerufen werden. So könnte etwa ein Politiker oder Berichterstatter, der eine klassische „Hexenjagd“-Rhetorik anwendet, damit auf fruchtbaren Boden bei Menschen fallen, die mental darauf angelegt sind, bestimmte Gruppen der Bevölkerung für herrschende Mißstände verantwortlich zu machen.

Ein neueres Beispiel ist die Äußerung des Bundesfinanzministers Steinbrück, der die Schweizer mit Indianern verglich, denen man angesichts des Schweizer Bankgeheimnisses in der Rolle der Kavallerie auftreten und die „Peitsche“ zeigen müsse. Diese Äußerung fand dann im „stern“-Kommentator Hans-Ulrich Jörges einen willigen Multiplikator: Die Schweizer seien „gierige(.) Gnome“, ihre Traditionen (ihr Bankgeheimnis!) „parasitär[.]“, sie machten „noch die Löcher im Käse zu Geld“ - am Horizont dräut schon die Äußerung von dem „Geldschweizer“. Weiter ging es mit dem „angemaßte(n) Existenzrecht“ der Schweiz („als Schwarzgeld-Safe der Diktatoren und Zumwinkels dieser Welt“), und es sei Zeit, daß jemand „den wilden Schweizer Westen“ „(b)reitbeinig und sporenklirrend“ „auf Trab“ bringe (Jörges 2009, S.36).

Wer also nicht tut, was Andere von Einem wollen, muß sich bedrohen und beleidigen lassen, und man darf ihm auch – zumindest im metaphorischen Sinne – mit Gewalt bedrohen. Dies ist natürlich eine gute Lektion darin, „daß man Konflikte nicht mit Geld löst“.

Quellen zu diesem Abschnitt:

Baier+Pfeiffer 2007

Brady+Matthews 2006

Bösche+Geserich 2007

Diepold, Barbara, "Zur Entwicklung der Geschlechtsidentität bei Jungen", in: Peter Buchheim, Manfred Cierpka, Theodor Seifert (Hrsg.), Lindauer Texte - Texte für psychotherapeutischen Fort- und Weiterbildung, Berlin et al.: Springer, 1995, S.103-114

Gugel 2007

Jörges, Hans-Ulrich, „John Wayne am Matterhorn“, in: „stern“ 14/2009, S.36

Pilz 2001

Safe School Initiative 2001

Schindel, Estella, "Desaparición y sociedad. Una lectura de la prensa gráfica argentina (1975-1978)", englischer Titel "Disappearance and Society", Dissertation, Freie Universität Berlin, 2005