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Martin Ebers

"Das halbe Bild"

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Gewalthaltige Computerspiele

IV. "Computersucht"

1. Literatur

[still to come: Übersicht Literatur]

Eine besonders extreme Position vertritt schließlich Wood (2007). Er argumentiert, daß die scheinbare "Videospielsucht" viel mehr darin besteht, daß "Computerspielsüchtigen" Fähigkeiten zum eigenen Zeitmanagement fehlten bzw. sich die Probleme, vor denen die Spieler durch das Spiel zu entfliehen versuchen - Eskapismus ist ein beliebtes Motiv der Mediennutzung (vgl. ) -, sich natürlich trotzdem manifestieren.

2. Studien von Grüsser-Sinopoli und Wölfling

2.1. Einleitung und Zusammenfassung

[In der SAT.1-Sendung "Planetopia" wurde am xx.xx.2008 über Untersuchungen berichtet, mit denen Auswirkungen des Computerspiels auf das Gehirn zu überprüfen versucht wurde.] Im entsprechenden Bericht klang an, daß es sich dabei allerdings ebenfalls um Habitualisierungsexperimente gehandelt hatte, bei denen vermeintliche "Gewöhnungseffekte" beim Konsum von Darstellungen aufgezeigt werden sollten (vgl. ). Diese sind natürlich in der Hinsicht problematisch, als eine "Abstumpfung" durch Computerspiele nicht eindeutig zu beweisen ist. In verschiedenen Untersuchungen - selbst bei der Benutzung von bildgebenden Verfahren wie fMRI zur direkten Untersuchung des Gehirns - zeigten sich hier widersprüchliche Ergebnisse (vgl. ).

Auch in anderen Berichten, so etwa in der Dokumentation "Spielzone" (arte, 03.06.2008), wurde die Aussage getroffen, daß von Wissenschaftlern "zweifelsfrei" bewiesen werden könne, daß Computerspiele süchtig machten. Dabei wurde explizit auf die Studien an der Charité in Berlin verwiesen, die in der Arbeitsgruppe von Susanne Grüsser-Sinopoli entstanden waren. Zum einen hatte allerdings Grüsser-Sinopoli den Begriff der "Sucht" ungenügend operationalisiert (s.u.). Selbst die Ergebnisse von bildgebenden Verfahren wie fMRI-Untersuchungen sind allerdings nur eingeschränkt aussagekräftig. So waren für Computerspieler in einer Situation, in der deren "Abstumpfung" bewiesen werden sollte, Aktivitätsmuster festgestellt worden, die ja denen ziemlich ähnlich sind, die eigentlich heftig gefühlsaktiven Menschen wie Verliebten gemein sind (siehe ).

[Zusammenfassung G et al.]

2.1.x Lebensumstände der "Süchtigen"

Im Rahmen von Grüsser-Sinopolis Untersuchungen wurde nun auch versucht zu erklären, wer denn für die vermeintliche "Computerspielesucht" besonders "anfällig" ist. Dabei fiel auf, daß 80% der davon Betroffenen Jugendliche mit niedrigem Bildungshintergrund, also insbesondere Hauptschüler sind. Sie würden diese Spiele bzw. die Erfolgserlebnisse, die man damit habe, als Stimmungsaufheller gebrauchen ("Die meisten Spielsüchtigen sind Hauptschüler", abgerufen am 03.06.2008). Dies liegt insofern nahe, als schon häufiger beobachtet wurde, daß Jugendlichen in niedrigen Schulformen zuweilen Arbeitslosigkeit und Sozialhilfe als einzige realistische Perspektive für ihre Zukunft dargestellt würden (vgl. ). So würde dann letztlich das Frustrationserleben dazu führen, daß ein Jugendlicher zum Spiel greift. Allerdings ist dann wieder die Frage, ob das Spielen mit der Zeit ausgeprägt wird, weil ein "Gewöhnungseffekt" auftritt und nun, um den gleichen "Kick" zu empfinden, mehr gespielt werden muß, oder der Jugendliche älter wird und näher am Ende seiner schulischen - und nach Vermittlung dieses Hintergrundes - auch beruflichen Karriere steht.

2.2. Kritiken an den Untersuchungen und andere Studien

Ansonsten sagt die Untersuchung zunächst einmal nur aus, daß exzessive Spieler gewisse Eigenschaften mit Drogensüchtigen gemein haben, nicht aber, daß Computerspiele selbst Suchtmittel darstellen (vgl. Clark 2006, S.70). Ansonsten wird es als problematisch angesehen, diagnostische Kriterien, mit denen eine psychische Erkrankung erklärt werden kann, ohne Weiteres auf eine andere Erkrankung zu übertragen (vgl. Blaszczynski 2007).

Clark (2006) stellt fest, daß der Begriff der "Sucht" in der Öffentlichkeit wie in der wissenschaftlichen Diskussion recht schnell verwendet wird. So lieferte eine Studie zu einem Online-Rollenspiel etwa für einen Spieler, der zum ersten Mal seit Monaten wieder einmal gespielt hatte, dieser sei ebenso "computerspielesüchtig" wie Personen, die über das Spielen ihre Arbeit und sozialen Kontakte verloren hatten (vgl. S.4). Der im Rahmen von medienkritischen Berichten immer wieder erwähnte Psychiater Bert te Wildt ist schließlich der Meinung, daß es sich bei der vermeintlichen "Computerspielsucht" nicht um eine "Sucht an sich" handelt, sondern viele vielmehr ein Symptom anderer Probleme ist. Gegebenenfalls könnten insbesondere Online-Spiele sogar einen Versuch z.B. von Menschen, die an sozialen Phobien leiden, darstellen, auf diese Weise wieder in Kontakt mit realen Menschen zu kommen (vgl. ). Auch bei Depressionen könnte das Spielen u.U. ein Therapieversuch sein. So ist eine Depression möglicherweise mit einem Mangel von Serotonin und Noradrenalin im Gehirn assoziiert. Jedenfalls gibt es auch Antidepressiva, die auf die Konzentration bzw. die Wirkung dieser Neurotransmitter wirken (vgl. Koch+Huth 2008, S.100+103). Der Medienkritiker Hopf hatte ja selbst postuliert, im Gehirn würde durch das Spielen Noradrenalin frei (vgl. Hopf 2002, S.255). Insofern könnte das Spielen möglicherweise die Stimmung des depressiven Spielers tatsächlich leicht verbessern. Wenn dieser auch insgesamt inadäquat ist, da hier nur die Stimmung leicht verändert, nicht aber die Ursache der Depression bekämpft wird.

Wenn schließlich das Spielen aber die einzige "soziale Aktivität" ist, ist das etwas wenig. Allerdings ist eine nur einzelne Freizeitaktivität zu betreiben vielleicht grundsätzlich problematisch, unabhängig davon, ob das jetzt Computerspielen ist oder nicht.

Viel wichtiger wäre es deshalb, zunächst einmal die Kriterien differenziert aufzuzeigen, die einen Spieler tatsächlich als "Süchtigen" ausweisen. Grüsser et al. hatten in ihrer Studie Spieler, die eine gewisse Punktzahl und einen gewissen Durchschnittspunktwert pro Kategorie überschritten hatten, als "exzessiv" charakterisiert, was in verschiedenen Medienberichten gleich synonym mit süchtigem Verhalten gebraucht wurde (etwa Panorama vom 05.04.2007, van Egmond-Fröhlich 2007, S.461 und Farin et al. 2008, S.). Grüsser-Sinopoli wies zwar in einem Interview selbst darauf hin, daß man von einem ausgiebigen Spielen nicht auf eine manifeste Sucht schließen könne (vgl. "Die meisten Spielsüchtigen sind Hauptschüler", abgerufen am 03.06.2008), allerdings war die unklare Definition bereits geschehen und hält diese später getroffene Differenzierung natürlich auch die Medienkritiker nicht davon ab, sie zu ignorieren.

Charlton und Danforth unterschieden im Gegensatz zu Grüsser et al. auch in den Artikeln sehr wohl zwischen Spielern, die einfach nur einen ausgeprägten Konsum pflegen, und solchen, die tatsächlich süchtiges Verhalten zeigen. Als Kriterien dafür werden genannt, daß der Süchtige an Verhaltensweisen festhält, obwohl ihm dadurch Nachteile entstehen (vgl. Walsh et al. 2008, S.7) und er unfähig ist, das diesbezügliche Verhalten zu ändern, obwohl er den Willen dazu hat (vgl. Blaszczynski 2007).

Clark (2006) versuchte in einer Studie mit Spielern von Onlinerollenspielen, die Zusammenhänge von strukturellen Eigenschaften von Spielen und sowohl ausgeprägtem als auch süchtigem Konsum aufzuschlüsseln. Er nahm dabei auch eine Auseinandersetzung zwischen Korrelationen (ausgedrückt durch r-Werte) und Kausalitäten (ausgedrückt durch ß-Werte) vor, die aufzeigt, daß man mit Aussagen über vermeintliche kausale Zusammenhänge sehr vorsichtig sein sollte.

Negative Valenz. Es wurde eine statistisch signifikante Korrelation von (r=0.215) zwischen der sogenannten negativen Valenz, d.h. Versuchen von Spielern, andere zu manipulieren oder deren Besitz zu erlangen (vgl. S.63), und allein dem süchtigen Verhalten festgestellt. Allerdings hatten nur sehr wenige Befragte überhaupt angegeben, sich schon einmal derart opportunistisch gegenüber anderen Spielern verhalten zu haben (vgl. ebd., S.52).

Spielelemente. Clark untersucht die Zeitwahrnehmung der Spieler von verschiedenen Aktivitäten, die diese in der Spielwelt durchgeführt haben. Ausgeprägte Spieler überschätzen etwa die Zeit, die sie mit dem Spielen verbringen (r=0.440), während süchtige Spieler die Zeit in der Tendenz unterschätzen (r=0.350). Süchtige Spieler verbringen allerdings mit einer höheren Wahrscheinlichkeit Zeit mit dem Kampf gegen andere Spieler (r=0.298 im Vergleich zu r=0.207 bei ausgeprägten Spielern). Dies ist auch das einzige Spielelement, das in einem ß-Zusammenhang zu ausgeprägtem (ß=0.180) oder süchtigem Spielekonsum (ß=0.118) steht (vgl. ebd., S.53f.).

Immersion / Eintauchtiefe. Ebenfalls ein interessanter Zusammenhang besteht zwischen der "Eintauchtiefe", die der Spieler in die virtuelle Welt hat, und der vermeintlichen Suchtwirkung von Computerspielen. Es wird angenommen, daß das Mediennutzungsmotiv des Eskapismus in einem Zusammenhang mit einem süchtigen Verhalten steht, während andererseits die Immersion ebenfalls in einem Zusammenhang mit dem Eskapismus steht. Dies könnte bedeuten, daß ein Spieler, der nach Ablenkung von realen Problemen sucht, besonders suchtanfällig ist. Allerdings besteht nach der Studie kein Zusammenhang zwischen der Immersion und dem süchtigen Verhalten (r=-0.042), während sogar ein signifikanter negativer Zusammenhang zwischen Immersion und ausgeprägtem Spielen besteht (r=-0.220). Das heißt, daß mit steigender Eintauchtiefe des Spielers in die virtuelle Welt dieser sogar weniger wahrscheinlich ausgedehnt spielt (vgl. ebd., S.54).

Team-Aktivitäten. In vielen Online-Rollenspielen können sich Spieler in sogenannten "Gilden" zusammenschließen, die in der virtuellen Umgebung soziale Aktivitäten oder im Rahmen sogenannter "raids" gemeinschaftliche Durchgänge von Kampfgebieten durchführen (vgl. ebd., S.15). Nach Clark (2006) stellt die Mitgliedschaft in eher auf soziale Aktivitäten orientierten Gilden einen signifikanten Prädiktor für ein ausgeprägtes Spielverhalten dar (ß=0.201), nicht aber für ein Suchtverhalten, während umgekehrt die Mitgliedschaft in eher auf die Lösung von Missionen ausgerichteten Gilden einen signifikanten Prädiktor für ein Suchtverhalten darstellt (ß=0.233), nicht aber für ein ausgeprägtes Spielverhalten (vgl. S.56).

Freundeskreis im realen Leben. Spieler, die sich im realen Leben in sehr vielen soziale Aktivitäten ergehen, zeigen wahrscheinlicher ein ausgeprägtes Spielverhalten (r=0.120), während allerdings der Umfang der sozialen Aktivitäten in keinem Zusammenhang zum Suchtverhalten steht (r=-0.13). Allerdings kann keine kausale Aussage gemacht werden (vgl. ebd., S.56).

Die Untersuchung erbrachte andererseits keinen Beweis für die These, daß bestimmte Elemente des Spiels selbst ein süchtiges Verhalten hervorrufen könnten (vgl. S.62).

Quellen zu diesem Abschnitt:

Blaszczynski, Alex, "Commentary: A Response to 'Problems with the Concept of Video Game 'Addiction': Some Case Study Examples", in: International Journal of Mental Health and Addiction, 2007, DOI 10.1007/s11469-007-9132-2

Clark, Neils L., "Addiction and the structural characteristics of massively multiplayer online games", M.A.Thesis, University of Hawai'i, 2006

Farin, Tim; Parth, Christian; Barth, Theodor, "Verloren in virtuellen Welten", in: "stern" 9/2008, S.133-139

Hopf 2002

Koch, Sannah; Huth, Nathalie, "Ein trauriger und sehr seltsamer Mensch", in "GEO Wissen" Nr.41 "Pubertät", 2008, S.96-103

van Egmond-Fröhlich, Andreas; Mößle, Thomas; Ahrens-Eipper, Sabine; Schmid-Ott, Gerhard; Hüllinghorst, Ralf; Warschburger, Petra, "Übermäßiger Medienkonsum von Kindern und Jugendlichen - Risiken für Psyche und Körper", in: Deutsches Ärzteblatt PP 10/2007, S.460-463

Walsh, Shari P.; White, Katherine M.; Young, Ross M., "Over-connected? A qualitative exploration of the relationship between Australian youth and their mobile phones", in: Journal of Adolescence Vol. 31(1), 2008, S.77-92; Seitenzahlen nach URL http://eprints.qut.edu.au

Wood, Richard T.A., "Problems with the Concept of Video Game 'Addiction'. Some Case Study Examples", in: International Journal of Mental Health and Addiction, 2007, DOI