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Martin Ebers

"Das halbe Bild"

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Gewalthaltige Computerspiele

3.2 "Gewaltmusik"

"Wir wissen sowieso, was die [jugendlichen Sexualtäter] alle hören: Sido und diesen ganzen Dreck."
(intuitives Urteil des Pädagogen Werner Meyer-Deters, zitiert nach Miehling 2007b)

"Bei der Skinhead-Musik handelt es sich um eine Musikrichtung, die von dumpfen, schlichten Melodien und harten, schnellen und stakkatoartigen Rhythmen dominiert wird. Sie kann ihrer Art nach als extrem laut und aggressiv charakterisiert werden."
(pars-pro-toto-Aussage im Verfassungsschutzbericht NRW 1996, S.98)

"Ich muß zugeben, daß ich enttäuscht war, als ich feststellen mußte, daß das Heilige Offizium weder Claudio Monteverdi näher untersucht, noch L'incoronazzione di Poppea verurteilt hatte. [...] Es gibt nichts in der Oper, das, richtig interpretiert, ein orthodoxes Gewissen stören könnte. Das Heilige Offizium konnte es sich leisten, sie zu ignorieren. Unter den Inquisitoren gab es - Gott sei Dank - keine Poppea."
(Goodman 2000, S.85)

"Jazz wurde zu seiner Zeit auch als 'Bordellmusik' bezeichnet, weil Viele ihn nur dort hören konnten. Das Bordell war gleichzeitig aber auch der einzige Ort, an dem sich Schwarze und Weiße auf normale Weise begegnen konnten."
(Billie Holiday, 1915-1959, in ihrer Autobiographie "Lady Sings the Blues")

Clash: "9. Juni [1977:] [...] Bei einer Durchsuchung des Bandbusses findet die Polizei gestohlene Kissen aus einem Hotel." (Klaus Miehling, Kämpfer gegen "Gewaltmusik [...] von Samba bis [...] Reggae", zur Gefährlichkeit der "Gewaltmusiker" in seinem "Gewaltmusik-Nachrichtenbrief" vom 05.04.2008)

Björn Dixgård (Mando Diao): „Ich hab’ mir in der Garderobe eine Zigarette angezündet, was nicht erlaubt ist.” (m[usik]e[xpress], Sept. 2006, S. 37)“
(desgleichen, vom 28.02.2009)

"Kultur hat nichts mit dem persönlichen Geschmack zu tun."
("Bebek", krimtartarischer Hip-Hopper, in "corso", DLF, 17.07.2008)

An der Oper hat mich am meisten beeindruckt, daß man auch unverstärkt soviel Krach machen kann.“
(F.M.Einheit, ehemaliger Schlagzeuger der „Einstürzende[n] Neubauten“, in „corso“, DLF, 20.02.2009)

Der deutsche Cembalist Klaus Miehling ist ein ausgewiesener Kritiker neuer Musikrichtungen. Seiner Meinung nach und auch "empirisch" belegbar sei, daß Musik, die sich nicht als "klassische Musik" einordnen läßt, nicht nur "künstlerisch [m]inderwertig[...]", sondern auch "böse (unmenschlich[.], unmoralisch[.], destruktiv[.], negativ[.])" sei, d.h. der Konsum solcher Musik die schulischen Leistungen von Jugendlichen beschädige, sie zu frühzeitiger und promiskuitiver sexueller Aktivität, zu Drogenkonsum und Gewalttätigkeit verführe. Unter den Begriff der "Gewaltmusik" faßt er zum einen Genres, die zu ihrer Zeit die Jugend ansprechen sollten, etwa Jazz, Rock'n'Roll, Rap und Hip-Hop. Für ihn zählt allerdings auch die sogenannte "Neue Musik" seit Beginn des 20.Jahrhunderts dazu (vgl. Codex flores Kritiken, abgerufen am 29.09.2008).

Meine Auseinandersetzung damit ist freilich die eines Amateurs, der mit vollem Tempo gerade einmal "Stille Nacht" klimpern kann. Und zwar in dem Sinne, daß ich gerne Musik höre und mich auch mit dem Kontext ihrer Entstehung beschäftige, die meiner charakterlichen Disposition entspricht. Meine Zuneigung insbesondere zur Alten Musik gewann ich sinnigerweise im schulischen Musikunterricht. Andere Elemente des Musikunterrichts empfinde ich aber eher als dazu geeignet, so etwas wie eine Liebe zur Musik abzugewöhnen. Notenlesen und Tonarten aufbauen kann in meiner Interpretation ja nicht Selbstzweck sein, wie man ja auch nicht Lesen und Schreiben lernt, um einzelne Buchstaben oder Worte, sondern um die dahinterstehenden Gedanken auf das Papier zu bringen. Dies sehe ich allerdings auch nicht im Widerspruch dazu, mir auch Musikstücke aus dem späteren 20.Jahrhundert anzuhören.

Nun haben auch Stücke aus der klassischen und Alten Musik in mir einen durchaus dankbaren Abnehmer gefunden. Ich denke aber, daß Stücke wie Giovanni Gabrielis "Sonata pian' e forte" oder Streichquartette von Joseph Haydn - oder selbst noch von Schostakowitsch - sicherlich nicht der Lebensart und -geschwindigkeit der meisten Jugendlichen entsprechen werden. Entsprechend wird man Jugendliche auch kaum darauf reglementieren können, sich eine andere Lebensanschauung anzueignen. Eine Auseinandersetzung mit den Thesen der Medienkritiker war aber insofern auch fruchtbar, .

3.2.1 "Macht populäre Musik kriminell?"

Die Musik wird heute auch als ein Leitmedium angesehen. In der Literatur finden sich konsequenterweise auch einige Auseinandersetzungen zu den Wirkungen von Musik. Der Medienkritiker Klaus Miehling nennt hier - in einer ähnlichen Argumentation wie bezüglich "Killerspielen", "Metzelspielen" etc. - den Begriff der "Gewaltmusik". Darunter faßt er "Musik mit "überbetontem" Rhythmus, mit verzerrten Klängen, "unsauberen" Intonationen, gegen den Takt gesetzten Betonungen, "aggressive[m] Gesang" und hoher Lautstärke (vgl. Miehling 2007a, S.1).

[Ergänzung vom 03.04.2008:] Klaus Miehling wurde auf meinen Beitrag aufmerksam und schrieb mir am 29.02.2008 einige kommentierende Zeilen dazu, die auch Richtigstellungen und Hinweise auf fehlende Angaben zu Äußerungen meinerseits enthielten (Feedback: Klaus Miehling, 29.02.2008). Allerdings können - wie so oft - einige der Repliken, die er zu meinen Einlassungen abgab, auch als Versuche einer Selbstimmunisierung seiner Theorie gewertet werden.

3.2.1.1 Korrelation/Kausalität

Zur Motivation rekurriert Miehling (2007a) - ähnlich wie die Medienkritiker in den anderen Rubriken - auf den "Hausverstand", daß Musik Gefühle ausdrückt und hervorruft. Er argumentiert, Musik gefalle dann, wenn der Hörer seine Gefühle mit den in der Musik zum Ausdruck gebrachten Gefühlen in Einklang bringen kann (vgl. S.2). Dabei vertauscht er aber gedanklich Ursache und Wirkung. Es mag durchaus so sein, daß jemand, der sich bestimmte Musik anhört, dadurch z.B. aktuell unkonzentriert wird als bei anderer Musik, und ist auch nachzuvollziehen, daß das Hören eines Musikstückes gewisse Emotionen auslöst. Allerdings wird auch niemand davon ausgehen, daß der Hören von Country-Musik Zuhörern eine konservative politische Gesinnung vermittelt oder ihre Intelligenz verändert (vgl. die Tabelle in Miehling 2007a, S.2). Tatsächlich zeigen verschiedene Untersuchungen zwar einen kausalen Zusammenhang zwischen den Texten von Musikstücken und bestimmten Gefühlen, nicht aber zu aggressivem Verhalten (vgl. Chiashi 2007, S.7f.).

3.2.1.2 Nachahmung von "Idealbildern"?

In seinem Essay vertritt Miehling weiterhin die These, daß Menschen letztlich die Verhaltensweisen, die in der Musik und auch von ihren Interpreten dargestellt würden, nachahmten und adaptierten (vgl. Miehling 2007a, S.9). In einem besonders drastischen Bild behauptet er, daß der Konsum von Black-Metal-Musik zu Satanismus und Menschenopfern führe (vgl. ebd., S.4+8). Besonders augenfällig ist, daß er als "Beweis" dafür auf Selbstrationalisierungen oder Rechtfertigungsversuche zurückgreift und auf eine moralische Ebene vermeintlich akzeptierter Lebensvorstellungen fällt. Insbesondere sei der in den 1960er Jahren vollzogene Wertewandel, der in der Geschichte ohne Vorbild gewesen sei, und auch der Anstieg der Kriminalität, der zu jener Zeit festgestellt wurde, vor allem auf "Gewaltmusik" zurückzuführen (vgl. ebd., S.5f.). So habe ein Rockhörer an sich festgestellt, die Musik habe an ihm eine "Gehirnwäsche" vollzogen, indem sie ihm tolerantere Haltungen zu Sexualität und Drogen eingeimpft habe. Der "Gewaltmusik" selbst bewirke (!) auf diese Weise letztlich den "moralischen Zerfall" der Gesellschaft (vgl. ebd., S.11f.).

"Früher war alles besser. Insbesondere war weniger von dem Früher da, an dem man hätte sehen können, daß früher eben doch nicht alles besser war."
(Martin Ebers)

Miehling sieht auch die Bekleidung der Jugendlichen als verantwortlich. Wer sich in einer bestimmten Form kleide - ggf. im Bekleidungsstil seinen Idolen nacheifere -, der eifere damit potentiell auch deren Verhalten nach. Entsprechend gefährlich seien Baggy-Pants, die weit herunterhängen. Diese seien eine Solidaritätsbekundung mit amerikanischen Strafgefangenen, die keine Gürtel tragen dürften (vgl. "Achtung Gewaltmusik!", abgerufen am 27.07.2008). Entsprechend sei zu überlegen, ob nicht zumindest im schulischem Umfeld derartige Bekleidung verboten werden sollte (vgl. Miehling 2008d).

Auch das ist aber wieder zu kurz gedacht. Zum einen ist doch die Frage, wo man aufhören sollte, - ob es also die krachlederne kurze Hose für Jungen und das züchtige Kleid zu den langen Zöpfen für Mädchen sein muß -, bzw. wandelt sich die "kulturelle Bedeutung" von Bekleidung. Vor 50 Jahren wurde z.B. das Tragen von Jeans als rebellischer "Ausbruchsversuch" aus gesellschaftlichen Normen gedeutet. Was das "Gefangenen-Argument" angeht, werden in vielen US-Gefängnissen die Insassen heute auch immer noch in Jeans gesteckt (vgl. Wikipedia: "Prison uniform", abgerufen am 27.07.2008), und gibt es sogar ein Bekleidungslabel, dessen Ware im Gefängnis hergestellt wurde (vgl. haeftling.de). Allerdings tragen die heute auch 80jährige oder US-Präsidenten. Dann ist sehr die Frage, wem wer schließlich damit nacheifern wolle. Zum anderen gibt es zwar den Ausspruch "Kleider machen Leute" oder den Eindruck, jemand wirke im Anzug "gleich einen Meter größer". Allerdings trug Al Capone vorwiegend Nadelstreifenanzüge, Seidenkrawatten und Borsalinohüte und war trotzdem ein Gangster.

3.2.1.3

c. Miehling erklärt jegliche Entäußerung, die Zuhörer und Zuschauer demonstrieren, zu einem "Ausleben von Aggressionen" (vgl. Miehling 2007a, S.10; Miehling 2008, S.8) und versucht zu implizieren, daß auch Straftaten "eine nicht unübliche Folge von Gewaltmusikkonsum" seien (vgl. Miehling 2007a, S.3). Als "Beweise" dafür führt er an, daß wenige Jahre nachdem die Stadt Chicago zu einer frühen Hochburg des Jazz geworden war, dort Al Capones Gangster-Imperium blühte, und um 1960, ein Jahrzehnt nach der Entstehung des Rock'n'Roll, ein Anstieg der Kriminalität begonnen habe. Zwischen 1950 und 1979 sei demnach die Zahl der Verbrechen, die von unter 15jährigen begangen wurden, um einen Faktor 83 bei weniger schweren und 110 bei schweren Verbrechen angestiegen (vgl. ebd., S.3f.), und bis zu 90% der Jugendlichen hätten innerhalb der letzten 12 Monate eine Straftat begangen (vgl. S.5).

(1) Zum einen ist dabei sehr deutlich darauf hinzuweisen, daß solche Fragen mit eingegrenzten Zeithorizonten bei den Befragten zu sehr starken Fehleinschätzungen - insbesondere zu Überschätzungen - führen (vgl. Killias 2007b, S.17), und andererseits befragte Jugendliche je nach der gegebenen Sensibilität für ein Thema auch Bagatellen als "Straftaten" berichten (vgl. Pröhl 2005, S.175).

Interessant fand ich auch die Darstellung von Miehling, daß in den USA zwischen 1960 und 1970 die Verbrechensrate um 176%, die Anzahl der Morde und Totschläge um 60% gestiegen sei (vgl. Miehling 2008, S.4). Die Methoden der Statistik ermöglichen bekanntermaßen praktisch die Belegung jeder Aussage aus ein und derselben Datenbasis. Nun sagt allerdings die Anzahl von Verbrechen nichts über die Anzahl von Taten des einzelnen Verbrechers oder über die Anzahl der Verbrecher aus, wenn nicht gleichzeitig auch die Bevölkerungszahl betrachtet wird. Wenn man etwa zusätzlich betrachtet, daß sich innerhalb des betrachteten Zeitraums die Anzahl der strafmündigen Personen bedingt durch die "Baby Boomer"-Generation deutlich erhöht hatte (s.u.), kann es eben sein, daß sich die Mordrate, d.h. die Anzahl der Taten pro Einwohnerzahl trotzdem ganz anders entwickelte. Nun könnte man anführen, daß Miehling ja auch die Verbrechensrate betrachtet. Aber auch diese Entwicklung läßt sich nicht einfach mit dem Vorhandensein von bestimmten Musikformen erklären.

(2) Daneben nahm die Kriminalität, insbesondere auch die Jugendkriminalität, nicht erst seit der Einführung des Rock'n'Roll zu, sondern bereits spätestens seit 1939 zu (vgl. "Die Mär von den guten Nazis", abgerufen am 05.03.2008), trotzdem Jazz, Swing, Tango etc. als "Negermusik" verpönt oder deren Anhören gar bei schweren Strafen bis hin zur Einweisung ins Konzentrationslager verboten war (vgl. Wikipedia: Swing-Jugend). Dazu muß übrigens auch noch festgehalten werden, daß es sich nicht zwingend um Handlungen handelte, die zu anderen Zeiten als tatsächliche "Kriminalität" angesehen wurden, sondern das Nazi-Regime hatte Verbrechenstatbestände erfunden, um Opposition gegen sich zu bekämpfen (vgl. Historisches Lexikon Bayerns: Hitlerjugend, abgerufen am 30.11.2007). Es nimmt auch nicht Wunder, daß infolge der Einführung immer härterer Bestrafungen auch die Zahl der Verurteilungen zunahm.

Im übrigen war die Gewalttätigkeit in früheren Zeiten auch nicht geringer, sondern erheblich größer. Zum einen ist da die moralisch verurteilte bzw. kriminelle Gewalt, die zum Beispiel vor Jahrhunderten - und nach Miehlings Argumentation war natürlich immer die "Gewaltmusik" schuld - deutlich ausgeprägter war (vgl. ). Zum anderen ist da die "kleine Gewalt", die unter der strafrechtlichen bzw. moralischen Schwelle lag, ab der Gewalttätigkeit in die erste Kategorie gesetzt wurde. So war es in der Vergangenheit zum Beispiel durchaus üblich, daß Eltern oder Lehrer Kinder schlugen, um diese für Fehler, Nachlässigkeiten, Mißachtungen etc. zu bestrafen. Diese Züchtigungen gingen bis hin zu regelrechten Mißhandlungen, die schwere körperliche und psychische Schäden hinterließen, wurden aber kaum moralisch verurteilt, sondern häufig damit gerechtfertigt, dadurch werde ein Abgleiten in unmoralische Verhältnisse verhindert - so heißt es etwa in der Bibel, wer sein Kind liebe, der halte nicht mit der Züchtigung zurück (vgl. ).

In den letzten Jahren ist der Statistik zunächst eine Zunahme der ersten Kategorie festzustellen, die allerdings dann wieder ausdifferenziert werden müssen: Killias (2007y) führt an, daß sich in der Schweiz seit 1954 die Rate der Verurteilungen von Jugendlichen mindestens verzehnfacht, Gewalttaten sich binnen der letzten etwa 20 Jahre verdoppelt bis verdreifacht hätten. Diese festgestellten Zunahmen der Jugendkriminalität wurden allerdings in jeweils durchaus signifikantem Umfang von 30-60% auf Reformen im Strafrecht und der Datenerfassung zurückgeführt (vgl. BFS 2007, S.11f.). Selbst Verdopplungen oder Verdreifachungen können laut dem Kriminalsoziologen Arno Pilgram noch größtenteils durch Veränderungen des Anzeigeverhaltens (vgl. "Jugendkriminalitätsstatistik: Soziologen zweifeln an Aussagekraft", abgerufen am 05.03.2008) oder durch die Frage, ob Gruppendelikte so oft erfaßt werden wie es Täter gibt (vgl. McCord+Conway 2005, S.7), erklärt werden. Während der letzten Jahrzehnte war ansonsten entgegen der Entwicklung der Anzeigequote in den USA die reale Kriminalität erheblich zurückgegangen (vgl. Heinz 2004, S.7f.).

Die Zunahme der Kriminalität in den USA und Kanada, auf die Centerwall seine These von der Gewaltwirkung des Fernsehens aufgebaut hatte, wurde tatsächlich auf die Zunahme der Geburtenrate in der sog. "Baby-Boomer"-Generation (1947-1964) zurückgeführt, und hatte sich entsprechend erledigt, als diese Generation das dreißigste Lebensjahr überschritten hatte (vgl. Kunczik+Zipfel 2004, S.210). Ansonsten gibt es ebenso Statistiken, nach denen die Zahl der Anzeigen oder Verurteilungen von Jugendlichen in den letzten Jahrzehnten weitgehend gleich geblieben ist (vgl. "Jugendkriminalitätsstatistik: Soziologen zweifeln an Aussagekraft" und Stuiber 2008 für Österreich) oder sogar die Straftaten der Jugendlichen seit 1998 beständig rückläufig sind (vgl. Schmidt 2008 für Deutschland).

Ansonsten muß die Jugendkriminalität auch im Kontext der allgemeinen gesellschaftlichen Vorstellungen gesehen werden. Nach einer Untersuchung der Kriminologin Susanne Karstedt begehen nicht weniger als 70% hin und wieder keine Delikte wie Steuerhinterziehung in geringem Umfang oder Nichtzahlung von Fernsehgebühren etc. Zwar war die Gruppe der bis zu 30jährigen am "unehrlichsten". Allerdings sind weder die Älteren "ehrlicher", noch läßt sich grundsätzlich davon ausgehen, daß die Deutschen heute "unehrlicher" seien als in früheren Jahrzehnten (vgl. Schürmann 2003, S.38).

(3) In seinem "Gewaltmusik-Nachrichtenbrief" Nr.43 äußerte Miehling im Hinblick auf einen analogen "Aggressionsversuch" mit gewalttätigen und nicht gewalttätigen Strafgefangenen, denen jeweils gewaltlose und gewalthaltige Filme vorgeführt wurden (mit dem bekannten Ergebnis solcher Kurzzeitversuche), eine Kritik daran, daß die hohe Rückfallquote von Straftätern darauf zurückzuführen sei, Strafgefangene (zumindest in deutschen Gefängnissen) nicht reglementiert seien, welche Kanäle und Sendungen sie sich ansehen könnte (vgl. Miehling 2008e, S.). Allerdings hält er nicht daneben, daß in US-Gefängnissen, sofern es dort in Tagesräumen Fernsehapparate gibt, häufig auch die verfügbaren Kanäle eingeschränkt sind. In einem besonders prägnanten Beispiel, dem Gefängnis von "Amerikas härtestem Sheriff" Joe Arpaio, der dafür bekannt ist, "seine" Insassen besonders "robust" - nach einem Urteil des irischen High Court gar "inhuman" und "sadistisch" - behandle, konnten sich die Gefangenen Zeichentrickfilme oder den Geschichtskanal (unter der strengsten Jugendschutzeinstellung) ansehen. Trotzdem ist die Rückfallquote dort nicht niedriger (Wikipedia: Joe Arpaio, abgerufen am 14.09.2008). Zum anderen haben sich - trotz größerer Verfügbarkeit von Medien -, in den vergangenen Jahrzehnten auch die Rückfallquoten nicht gesteigert (vgl. Fuchs 2007, S.29). Nach einer Untersuchung in Österreich, die zwischen 1975 und 1983 durchgeführt wurde, betrug die Rückfallquote von 1975 verurteilten Jugendlichen insgesamt etwa 66%, Mehrfachtäter wurden zu 80% rückfällig. Zumindest für die erstere Zahl ist für eine weitere diesbezügliche Untersuchung aus dem Jahr 1989 der gleiche Wert dokumentiert (vgl. ebd., S.17f.), desgleichen für das Jahr 1994 in Deutschland ein Wert von insgesamt 64.6%, und für Jugendstrafen ohne Bewährung - bei denen wir davon ausgehen, daß diese außer bei sehr schweren Delikten nicht für eine Ersttat verhängt werden - ein Wert von 77.8% (vgl. Heinz 2008, S.49).

Ein weiteres Beispiel, das die These widerlegen mag, ist Rußland: Dort wo russische Strafgefangene überhaupt fernsehen dürfen, sind Sendungen mit gewalttätigen Inhalten nicht erlaubt (vgl. „Mißwahl hinter Gittern“, „ZDF doku“, z.B. 20.03.2009) . Die Rückfallquote russischer Strafgefangener liegt bei 92% (vgl. "Alles Arschlöcher hier! Das Saarbrücker Max-Ophüls-Festival...", abgerufen am 20.03.2009).

(4) Nicht zuletzt war die Kriminalität in Zeiten viel höher, als von "Gewaltmusik" im Miehlingschen Sinne noch keine Rede war: So spricht Thome (2001) davon, daß in der frühen Neuzeit die Mordrate im Extremfall auf ein Dreißigstel des damaligen Wertes abgenommen hat (vgl. S.2f.). Freilich ohne daß man der Meinung sein könnte, die Täter seien dadurch gewalttätig geworden, daß sie sich z.B. zuviele Stücke von Gesualdo oder Mozart angehört hatten. Musik ist allenfalls Artefakt eines die Zeit prägenden Geistes. Die Wertvorstellungen jedoch sind - ob sie nun von den Eltern weitgehend übernommen werden oder diesen weitgehend widersprechen - Ausfluß der Wertvorstellungen der Älteren.

Bei seiner Darstellung vernachlässigt Miehling entsprechend völlig, in welchem gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kontext die Entwicklung der Kriminalität bzw. der moralischen Werte stattfand. So nennt Killias (2007c) als einen wesentlichen Grund für ein vermehrtes Auftreten von Verbrechen nach dem zweiten Weltkrieg die Entstehung der modernen Konsumgesellschaft, mit der auch ein verändertes Freizeitverhalten verbunden gewesen sei. In der Folge dieser Entwicklungen habe es dann mehr Gelegenheiten für kriminelle Handlungen gegeben (vgl. S.12).

Gerade die Nazizeit war ansonsten eine so radikale Zäsur, daß die althergebrachten Erklärungsmuster nicht mehr anwendbar waren. Die Moralvorstellungen der Eltern hatten nicht getaugt, um die Herrschaft der Nazis zu verhindern oder zu Fall zu bringen. Viele der Eltern hatten sogar ihren kleinen Teil zum Erfolg der Nazis bei vielen ihrer Ziele beigetragen, indem sie die Nazis als Vertreter ihrer Moralvorstellungen sahen und sich selbst entsprechend in deren Dienst stellten. Als sich das Leben mit dem "Wirtschaftswunder" wieder zu normalisieren begann, lebten die Eltern nach genau diesen Moralvorstellungen weiter:

[In Elia Kazans Film "Jenseits von Eden" spielte der als Idol der 1950er Jahre angesehene James Dean, der zu dieser Zeit schon arrivierter Theaterschauspieler war, einen Jugendlichen, der um die Liebe seines Vaters kämpfte. Die Figur wurde als "rebellisch" angesehen (vgl. Wikipedia: Jenseits von Eden, abgerufen am 09.04.2008). Dabei hatte der Protagonist von seinem Vater bloß eingefordert, daß dieser ihn als eigenständige Person wahrnimmt.]

Studenten, die gegen gesellschaftliche Verhältnisse aufbegehrten, wurden auch mit Sprüchen wie "Euch sollte man vergasen" bedacht (vgl. "1968 - Ein Jahr der Protestbewegungen", arte, 17.05.2008). Was bei jenen Gegendemonstranten wohl für eine Mentalität dahinterstand?! Bis weit in die 1960er Jahre hinein hatten Altnazis, die sich in die Bundesrepublik herübergerettet hatten, in Politik, Verwaltung und Justiz wichtige Posten innegehabt und hatten entsprechend auch ihre Wertvorstellungen vertreten und durchgesetzt (vgl. Augstein 2008).

Wenn man nun also betrachtet, welche Verhaltensweisen schon als "rebellisch" galten, so zeigt sich, daß schon geringe Abweichungen von dem "moralischen Standard", den die Außenwelt vorgegeben hatte, für ernste Konsequenzen ausreichten. Wieder wurden Jugendliche beschimpft und gedemütigt, wenn sie anderen Liebesbriefe geschrieben hatten, und als "verwahrlost" bezeichnet, wenn sie sich nicht den "herrschenden Vorstellungen" konform kleideten oder abends zu spät nach Hause kamen, und in geschlossene Heime eingewiesen, in denen Jugendliche unter menschenunwürdigen Bedingungen untergebracht waren und arbeiten mußten (vgl. ).

Auch das Frauenbild der 1950er Jahre ähnelte so sehr den Vorstellungen, wie sie die Nazis als Ideal dargestellt hatten. Über diesen Aspekt war unlängst Eva Herman gestolpert, als sie in ungelenken Sätzen über die Wertvorstellungen der Nazis zu schwadronieren schien (vgl. Wikipedia: Eva Herman, abgerufen am 19.05.2008). Tatsächlich waren diese natürlich wesentlich älter, in den letzten Jahrzehnten vor der Machtübernahme der Nazis hatten sich aber andere Vorstellungen durchgesetzt, so daß es sich hierbei um einen Rückgriff auf schon zu ihrer Zeit eigentlich überkommene Vorstellungen handelte. Man könnte ggf. annehmen, daß die Nazidiktatur und die Beibehaltung vieler ihrer Rückgriffe in der jungen Bundesrepublik zu einer Verzögerung der Entwicklung der Lebensformen um circa vierzig Jahre geführt hat.

Menschen, die wegen Verstoßes gegen Moralgesetze vor Gericht standen, die noch in der Nazizeit erlassen worden waren, mußten sich anhören, "[w]enn wir heute noch ordentliche Zeiten hätten, dann würde ich Sie ins KZ schicken" (so berichtete vor Jahren in der WDR-Sendung "Domian" ein homosexueller Mann von seinen Erfahrungen mit den Strafverfolgungsbehörden in der Adenauer-Zeit).

Man hatte also auch nicht so sehr umgedacht. Um so mehr noch hatten sich die Erwachsenen moralisch diskreditiert, als sie daneben auch die eigene Verantwortung für den Naziterror nicht hinterfragten. Auch führten die Altvorderen und jene "Wertegemeinschaft" wieder verheerende Kriege, insbesondere in Vietnam, und gingen weiterhin davon aus, daß die Jugend schon mitmachen würde, wenn sie - wie immer sonst vorher - zu den Waffen gerufen wurde. Wie verwunderlich dann, daß junge Menschen in den 1950er und 1960er Jahren kein Interesse mehr daran hatten, den Moralvorstellungen ihrer Eltern auch nur ungefähr zu folgen. Reklamierte Werte wie "Ehrlichkeit" und "Verantwortung", mit denen sie sich so sehr beweihräucherten, hatten die Altvorderen damit andererseits auch nicht demonstriert.

Klaus Miehling bemerkte hier, daß Menschen, denen solche "Werte" verloren schienen, diese hätten wieder aufrichten müssen. Süffisanterweise gibt es auch aus der 68er-Zeit anekdotisch zu berichten, daß die männlichen Aktivisten es weiterhin ganz selbstverständlich fanden, daß die Frauen zum kritischen Diskurs den Kaffee und die Schnittchen beisteuerten. Weiterhin bemerken Musiker wie die "Fantastischen Vier" heute durchaus, daß auch der Hip-Hop durchaus eine "spießige", mittelständische Form von Musik und Lebensart, das "Ghettoische" am Verhalten der Macher primär Schau sei ("HipHop ist eine spießige Bewegung", abgerufen am 19.07.2008). In der Tat aber hatten sich die Studenten gegen Ende der 1960er Jahre und auch später die "Grünen" sehr wohl mit diesen Werten auseinandergesetzt. Von Daniel Cohn-Bendit ist eine Antwort auf den berühmten Satz "Geht doch nach drüben" überliefert. Er sagte: "Das können Sie auch tun. Dort sind Demonstrationen nämlich verboten". Im Grunde manifestierte sich erst vergleichsweise spät das Verständnis, daß Demokratie sehr wohl das Recht zum Widerspruch beinhaltet (wenngleich da bisweilen auch die heutige Politik geteilter Meinung zu sein scheint). Tatsächlich wurde - wenn auch, wie einige der damaligen Akteure Jahrzehnte später amüsiert berichteten, daß man auch häufig kämpfen wollte, ohne zu wissen, wogegen oder wofür (vgl. "Pariser Mai 68. Revolution ohne Folgen", WDR3, 05.05.2008) - mehr oder weniger erst auf Druck der Jugend zwanzig Jahre nach Ende des zweiten Weltkriegs langsam die Auseinandersetzung mit der eigenen Verantwortung begonnen. Auch der Umweltschutz ist in Teilen ein Ausfluß der 68er Bewegung.

Er hat natürlich auch ein besonderes Verhältnis zur "Ehrlichkeit". So räsoniert er etwa im Zusammenhang mit einer Auseinandersetzung von Weindl (2005), die den Fans von Heavy-Metal-Musik eine eben solche bescheinigte, es sei ja dann paradox, wenn "viele [der Fans sich] die Musik über Raubkopien" beschafft hätten (vgl. Miehling 2008c, S.20). Es könnte ja nun einfach sein, daß es überhaupt noch keinen kommerziellen Weg, an Aufnahmen zu gelangen, und damit keine andere Möglichkeit gab, als Konzernmitschnitte zu kopieren. Dies gilt allerdings ebenso für Hörer klassischer Musik, die in vergangenen Jahrzehnten ebenfalls mit in Aufführungen eingeschmuggelten Aufnahmegeräten Mitschnitte anfertigten. Dies nicht nur für den privaten Bedarf, sondern es gab sogar Musiklabels, die ihr Programm aus diesen Aufnahmen bestritten (vgl. "Hörzeichen" (Entdeckung einer "neuen alten" Aufnahme von Wagners "Ring der Nibelungen"), WDR3, 29.08.2008). Andererseits seien die Hörer klassischer Musik nicht gerade dazu prädestiniert, sich diese kostenlos über Tauschbörsen zu beschaffen (vgl. "Achtung Gewaltmusik!", abgerufen am 27.07.2008). Tatsächlich aber würde ich behaupten wollen, daß auf Diensten wie RapidShare auch klassische Musik zu finden ist.

Im Vergleich zur von Miehling gescholtenen "Gewaltmusik" ist allerdings auch der Verbreitungsgrad von klassischer Musik - wenn man einmal von einigen populären Stücken absieht - in Tauschbörsen deutlich geringer. Zumindest dem Sayschen Theorem, das aus der Schule der neoklassischen ökonomischen Theorien stammt, zufolge schaffe - in einer hier allerdings trivialen Interpretation - nun das Angebot die Nachfrage (vgl. Wikipedia: Saysches Theorem, abgerufen am 27.07.2008), d.h. gibt es kostenlose Angebote, dann werden diese auch genutzt. Wenn es diese allerdings nicht gibt, dann wird man sich die Musik, die einen interessiert, eben kaufen, wenn man das Geld dazu hat - und in der Regel nicht einsehen (abgesehen davon, daß das Anbieten von Musik zum Download nicht nur eine Urheberrechtsverletzung darstellt), warum man Anderen diese kostenlos zur Verfügung stellen sollte -, oder sie nicht kaufen, ist also ebenfalls nicht wirtschaftlich relevant. Nehmen wir an, daß zum einen natürlich die Hörer solcher Musik im Schnitt deutlich älter sind und - altersbereinigt - im Schnitt ein höheres Einkommen haben.

Nicht zuletzt können Verletzungen des Kodex der vermeintlichen "Wertegemeinschaft" ansonsten auch als Reaktion gegenüber deren Versuchen gesehen werden, das Wesen und Verhalten des Menschen zu reglementieren (vgl. Pilz 2003, S.12f.). Was das angeht, sollen sich angeblich die Deutschen immer noch moralischer verhalten als es die Bedingungen erwarten lassen (vgl. Schürmann 2003, S.38).

. Auch Konzerte und Raves, die Musikveranstaltungen der Technoszene, führt Miehling in diesem Kontext an (vgl. Miehling 2005, S.8). Als "Beweis" für die vermeintlich Kriminalität auslösende Wirkung von Rap und Hip-Hop-Musik führt Miehling an, daß auf einem Hip-Hop-Festival 90 Jugendliche wegen Diebstählen und Drogendelikten verhaftet worden seien (vgl. ebd., S.5), und bringt ansonsten das überhaupt erst einmal intuitive Urteil eines Pädagogen, der jugendliche Sexualstraftäter therapiere, daß er ja schon gar nicht mehr reinhöre, "was für Musik" sich diese anhörten. Er wisse "sowieso, was die alle hören" (s.o.).

Für ihn problematisch ist anscheinend bereits, daß sich die "Zuhörer" solcher Veranstaltungen sich nicht passiv verhalten oder bloß - wie es heißt - "aktiv zuhören", sondern sich bewegen (vgl. ). Allerdings ist diese Musik natürlich bereits darauf zugeschnitten. Untersucht man Tanzmusik, fällt diese in der Regel durch eine Rhythmik auf, die den Bewegungsmustern in etwa entspricht, in die sie umgesetzt werden soll. Häufig wird die Rhythmik eingängig auch durch Perkussionsinstrumente, u.a. Schlagzeug, dargestellt. (In dem Falle hat tatsächlich die "alte Musik", wiederum eine größere Ähnlichkeit als die "klassische Tanzmusik", die man üblicherweise in der Tanzschule hört).

Nun führt Miehling an, daß "populäre Musik" auch einen direkten Auslöser für Straftaten darstelle. Er beginnt seine Ausführungen mit einer Darstellung, daß Filmvorführungen und Rockkonzerte bereits im Deutschland der 1950er Jahre (vgl. Miehling 2008, S.5f.). Es wird allerdings nicht erklärt, was konkret zu den Ausschreitungen geführt hatte. So hatte zum Beispiel auf Konzerten häufig die Polizei das Publikum daran hindern wollen, die Bühne zu betreten. Das war natürlich in Deutschland zuvor auch nicht üblich gewesen und ist es heute auch nicht mehr, führte aber damals zu heftigen Tumulten.

Desweiteren nennt Miehling die "Love Parade", zu der so gut wie jedes Jahr Hunderttausende Jugendliche und junge Erwachsene anreisen, als Quelle "hunderttausender Straftaten" (vgl. Miehling 2008, S.5, Anm.35). Ansonsten sollte vielleicht auch einmal bedacht werden, daß dort wo viele Jugendliche - insbesondere bestimmter Schichten - zugegen sind, häufig auch vermehrt jugendliche Straftäter zu finden sein werden. Auch dürfte es schwerfallen, anläßlich von Großereignissen wie etwa der "Love Parade", ähnlich viele Schläger zu finden wie bei einem durchschnittlichen Fußballspiel. Bezeichnenderweise wird auch nicht genannt, wie viele Hundertschaften von Polizisten teilweise schon zu Spiele in den Amateurligen auffahren müssen, um größere Ausschreitungen zwischen den Fans der gegnerischen Mannschaften zu verhindern.

. Bei Miehling finden sich schließlich auch religiöse Argumentationen. So darf die "dämonische Besessenheit" natürlich nicht fehlen. Er berichtet davon, daß Zuschauer auf Rockkonzerten in ekstatische Zustände gerieten, die sich in Trancen, Weinkrämpfen, hysterischem Kreischen etc. äußerten, oder auf solchen Konzerten auch Kleidungsstücke oder der Schweiß der Musiker als Devotionalien verehrt würden (vgl. Miehling 2005, S.9). Ohne freilich davon zu sprechen, daß derartiges Erleben auch bei diversen religiösen Veranstaltungen, wie sie etwa Katholiken, Evangelikale, Pfingstler oder Charismatiker betreiben, gang und gäbe ist und sogar als Beweis für "göttliches Wirken" gesehen wird. Dort natürlich im positiven Sinne.

Zum anderen behauptet er, daß eine Weltanschauung wie der Satanismus "ausdrücklich Partei für das Böse ergreif[e]" (vgl. Miehling 2008c, S.20). Nur könnte diese Einschätzung ja ebenso falsch sein z.B. die von Gabriele Kuby, daß Hexen im Märchen grundsätzlich das Böse wollten. Nun gibt es allerdings verschiedene Formen des Satanismus, die voneinander abzugrenzen sind (vgl. Wikipedia: Satanismus, abgerufen am 12.05.2008). Zum einen wird Satanismus relativ einfach als Abgrenzungs- und Protesthaltung angesehen, die entweder die Bigotterie der religiösen Eltern oder bisweilen auch die Konzentration des Atheismus auf die Vernunft umkehrt, "verballhornt" oder die Jugendlichen damit die Abgründe offenlegen, die in der Lebenshaltung der Eltern existieren. Diese Form wird häufig als destruktiv angesehen, weil ihre Ablehnung der Gesellschaft ihr genüge und nichts darüber hinaus erreicht werden soll (vgl. Relinfo: "Jugendsatanismus", abgerufen am 12.05.2008). Allerdings wird diese von Vertretern auch nicht als "echter" Satanismus angesehen (vgl. "Satanismus und Ritueller Mißbrauch", abgerufen am 12.05.2008).

Die Einschätzung darüber, welche Einstellung nun die Mehrheit ausmacht, mag von der Weltanschauung der Beurteilenden abhängen. Christliche Quellen sehen den Satanismus zum Beispiel als "parasitäre Spiegelreligion" an, die sich ausschließlich in Egoismus ergehe (vgl. "666, Satanismus", abgerufen am 12.05.2008), während Menschen, die sich selbst als Satanisten bezeichnen, zum Beispiel auf die Tendenz des christlichen Glaubens zur Selbstkasteiung hinweisen (vgl. ).

. Letztlich läßt sich wohl zu jeder Haltung, die man vertritt, eine Statistik - und wahrscheinlich innerhalb dieser zu jeder Haltung eine Zahl finden, die diese untermauert. So stellte Weindl (2005) fest, daß all zu platte Kausalhypothesen wie etwa von Glogauer, die einen Zusammenhang zwischen Heavy Metal und Okkultismus sehen, nicht bestätigt werden könnten, weil nur jeder dritte Anhänger des Okkultismus Heavy-Metal-Fan ist (vgl. S.132). Miehling setzt nun dagegen, daß sehr wohl ein Zusammenhang bestehe, weil Heavy Metal unter Okkultismus-Anhängern dreimal beliebter sei als im Bevölkerungsdurchschnitt. Aus einer anderen Zahl, daß knapp die Hälfte der HM-Fans sich nicht mit Satanismus beschäftigt habe, folgert er entsprechend, daß mehr als die Hälfte es eben getan habe (vgl. Miehling 2008c, S.20). Allerdings werden von seiner Seite keine Vergleichszahlen präsentiert, wie groß Interessenlagen denn unter der gleichen Altersklasse ausgeprägt seien.

Ein Problem, das hier erscheint, ist eben, daß versucht wird, aus Befindlichkeiten von Minderheiten heraus über die Befindlichkeiten von Mehrheiten zu argumentieren. In einer hier beispielhaft zugrundegelegten Befragung von Hupka (2002) geben zum Beispiel nur 3.3% der Jugendlichen an, vorwiegend, bzw. nur 13% an, "ab und an" klassische Musik zu hören (vgl. S.125f.). Ich habe persönlich noch nie gehört, daß ein Jugendlicher auf seinem Ghettoblaster ein Stück von Telemann gespielt hätte, geschweige denn in der S-Bahn mit anderen Fahrgästen darüber in Streit geraten sei. Daraus läßt sich aber aufgrund des kleinen Anteils an Jugendlichen, die sich vorwiegend klassische Musik anhören, nicht folgern, daß das Hören von nicht-klassischer Musik zu Streitigkeiten führt. Hier würde ich eher versuchen, die Besonderheiten von Jugendlichen zu betrachten, die sich am liebsten klassische Musik anhören. Denkbar ist wohl, daß der "typische" Klassikhörer unter den Jugendlichen zu einer mittleren bis gehobenen Schicht gehört, und ggf. durch eine höhere soziale Selbstkontrolle gekennzeichnet ist. Ein künftiger Wirtschaftslobbyist mag z.B. potentiell die liberale bis konservative Weltanschauung seines Umfeldes annehmen, etwa im kirchlichen Umfeld oder im Schützenverein aktiv sein. (Ein weiteres Beispiel für eine solche in meinen Augen verdrehte Argumentation über Studienergebnisse ist die Darstellung, Jugendliche, die sich Pornos ansehen, würden früher sexuell aktiv - auch im Lichte des Umstandes, daß die Jungfräulichkeit ab einem gewissen Alter krankhaft werden könnte -, siehe II.3.1).

2. (Ent-)Idealisierung der klassischen und der E-Musik

"Schwarze Schafe sind keine Laune der Natur. Zuerst waren alle Schafe schwarz, bevor der Mensch ihre Felle weiß züchtete, um sie nach Beliebten färben zu können."
(gehört in: "Eine Welt", DLF, 22.03.2008)

Letztlich ist natürlich Miehlings Definition von "Gewaltmusik" so gewählt, daß zwar die Beatles dieser unterfallen, allerdings nicht etwa eine Battaglia (Schlachtmusik) aus der italienischen oder englischen Renaissance oder Tschaikowskys "Ouvertüre 1812", die sogar explizit mit einer Kanone orchestriert ist. Allerdings ist es nicht zielführend, alle Einsätze von Schlagzeugen als "Schüsse" zu assoziieren. Denn mit dem gleichen Recht, könnte man den Einsatz des Klaviers als "Gedengel" (vgl. etwa die "Ciaconna dei tempi di guerra" von Erich Itor Kahn) oder die Benutzung von Tuba oder Flügelhorn als "Flatulenzen" (vgl. etwa Karl-Heinz Stockhausens "Dienstag") bezeichnen. Während zwar Synästhesien - gleichsam automatische Assoziationen des Gehirns - möglicherweise konsistent sind, kann doch ein und dasselbe Musikinstrument in verschiedenen Stücken doch ganz unterschiedliche Dinge darstellen. Was etwa in Tschaikowskys "Overtüre 1812" (vgl. Wikipedia: Ouvertüre 1812, abgerufen am 19.03.2008) oder in Portisheads "Machine Gun" tatsächlich als "Schüsse" ausgedeutet werden kann, mag im Jazz, immerhin einer "Gewaltmusik" im Miehlingschen Sinne, zum Beispiel auch als fallender Regen, als fließendes Wasser, als Herzschlag oder als Arbeitsgeräusch einer Maschine oder Lokomotive ausgedeutet werden, mit dem das Lebensgefühl der modernen Zeit plastisch gemacht wurde, die den Menschen allerdings auch viel zu oft zu überrollen droht. In anderen Fällen wird ein Jazzstück durch Einsatz von Schlagzeug erst "spritzig" oder überhaupt anhörbar. Ansonsten wurden elektronisch verfremdete und arhythmische Klänge ebenfalls in der vermeintlichen E-Musik verwendet, z.B. in Edgard Vareses "Poeme electronique" aus dem Jahr 1958. Dort ist die Verwendung dann soweit gediehen, daß die Musik nicht mehr wirklich "anhörbar" ist.

Andererseits beurteilen einige von Miehling als "Gewaltmusiker" Titulierte ihre Musik durchaus als "aggressiv" - so etwa Joe Boyd, der Urheber des Elektrosounds in den 1960er Jahren (vgl. "Tracks", arte, 06.04.2008) - oder "disharmonisch" - wie die Gruppe "Einstürzende Neubauten". Allerdings enthielt deren Musik zunächst eine Botschaft: so sind die "Einstürzenden Neubauten" der Auffassung, Musik müsse die herrschenden Verhältnisse in der Gesellschaft abbilden - diese seien nun einmal disharmonisch (vgl. "Musikpassagen - Die Harmonie", WDR3, 09.04.2008). Diese Bedeutung wurde der Musik allerdings durch die Musikindustrie, als sie die entsprechenden Genres als Geldquelle entdeckte, genommen und die Musik damit sinnentleert (vgl. Backmund 2002, S.10). Miehling wird natürlich dies auch nicht gelten lassen, sondern er will ein ganz bestimmtes Bild produzieren und nur eine Assoziation gelten lassen. So ist für ihn etwa der Künstlername des Rappers "Bushido" nicht etwa von der (von dem Rapper im Sinne der "Sinnentleerung" - dies konzidiert - vielleicht auch nicht gemeinten) Philosophie der Samurai (übersetzt "Der Weg des Kriegers") abgeleitet, sondern von einer in Japan populären Pornofilmreihe (vgl. Miehling 2008a, S.2). Was ja auch schon auf einen gewisserm&azlig;en "pornographischen Blick", der überall nach Verurteilenswertem sucht, bzw. zumindest darauf hinweist, daß grundsätzlich nur die (vermeintlich) schlimmste Interpretation richtig sein kann.

"Mozart hatte keine Ahnung davon, daß er 'klassische Musik' machte. Genrenamen und Epochenbezeichnungen werden von Wissenschaftlern [erst lange Zeit später] geprägt."
(gehört in: "Corso - Kultur am Nachmittag", DLF, 22.03.2008)

"Warum sollte ich mich auch mit Musik beschäftigen, die ich nicht mag?"
(gehört in: "Zwischentöne: Das Klavierduo Grau/Schumacher", DLF, 25.03.2008)

Miehling führt etwa Ergebnisse von Roe (1987) an, nach denen das Anhören von klassischer Musik mit guten Schulleistungen, das Anhören von U[nterhaltungs]-Musik im Gegensatz mit schlechten Schulleistungen, das Spielen nach Dyce+O'Conner (1984) mit "Arroganz, Neurotizismus [und] Extraversion" assoziiert sei (vgl. Miehling 2007a, S.2). Miehling ist selbst ein Verfechter der "traditionellen" Einteilung in "E-Musik" und "U-Musik". Er ist der Auffassung, daß "klassische Musik" vor allem die Kognition, "Gewaltmusik" aber vor allem das Stammhirn anspreche, dort besonders den Aggressions- und den Sexualtrieb (vgl. "Achtung Gewaltmusik!", abgerufen am 27.07.2008). Allerdings ist diese Trennung denkbar subjektiv, fiktiv und/oder willkürlich. Persönlich würde ich etwa keine Musik konsumieren, deren Anhören mir kein Vergnügen bereitet, mich nicht inspiriert, ja mich womöglich gar "unterhält". Damit verläuft die Trennung nicht notwendigerweise dort, wo sie von Musiktheoretikern gezogen wird: Obwohl ich einen eher negativen Bezug zur Religion habe, kann ich religiöse Stücke von Michael Praetorius oder Jean-Baptiste Lully etwa - und nicht nur - wegen der künstlerischen Realisierung als Vergnügen empfinden, während andere Stücke mit ähnlicher Thematik mich eher langweilen mögen. Entsprechend mutmaßen auch Andere, daß in früherer Zeit auch die "religiös-erbaulichen" Stücke ggf. dem "Nervenkitzel" dienen konnten (vgl. "Vesper: Mittelalterliche Endzeitfragmente", WDR3, 15.11.2008). Jazzstücke empfinde ich meist als eher monotone Klangteppiche, zwischen denen ich kaum einen Unterschied feststellen kann. Genauso gibt es gute und schlechte Stücke aus der Rockmusik. All das muß ich allerdings mit meinem persönlichen Geschmack ausmachen.

Dabei ist allerdings interessant, daß es sich um einen Selektionseffekt handelte: Schüler, die im Alter von 13 Jahren bessere Noten hatten, konsumierten zwei Jahre später häufiger klassische Musik. Trotzdem reklamierte Miehling weiterhin, daß das Anhören von Rock'n'Roll, Rap, Hip-Hop etc. die Hirnkomplexität verringere (vgl. Miehling 2007b, S.2), und kehrte damit diesen Effekt gedanklich um. Auch ist das "Ergebnis", daß 91% der jugendlichen Straftäter "Rockmusikanhänger, davon 54% Satanisten, davon die meisten 'Schulabbrecher, die auffallend viel Musik hörten'" (vgl. Wass et al. 1991, nach Miehling 2007a, S.2), seinerseits auch noch kein Hinweis für eine Kausalität, sondern könnte auch einfach dadurch zu erklären sein, daß wohl schon ein Großteil der Jugendlichen delinquenzunabhängig Rockmusik hören. Diese Aussage ist nach Bösche+Geserich (2007) nur dann interessant, wenn die Wahrscheinlichkeit eines Verbrechens gegeben den Konsum größer ist als die Wahrscheinlichkeit gegeben keinen Konsum (vgl. S.58).

Miehling wies mich in seiner Nachricht weiterhin darauf hin, daß nach Untersuchungen von Roe (1987) elfjährige Mädchen und 15jährige Jungen, die "sozial mißbilligte Musik" bevorzugten, eine Tendenz zu einem geringeren sozialen Status hätten. Allerdings ist Musik nicht losgelöst von ihrem Kontext. Wo Miehling sogar soweit geht, die Definition solcher "Gewaltmusik" z.B. auch auf Country-Musik auszudehnen (s.u.), sollte vielleicht erfragt werden, welchem sozialen Umfeld die Hörer denn entstammen: In Kreisen der eher niedrig Gebildeten - die je nach Lebenskontext Country- oder Hip-Hop-Musik bevorzugen mögen -, wird es bezeichnenderweise nur wenige Studienaspiranten geben.

Miehling behauptet auch, es müsse auch einen Zusammenhang zwischen der gespielten Musik und dem Charakter der Interpreten geben, und es falle schwer, unter klassischen Musikern eine vergleichbare Anzahl an Kriminellen und Delikten zu finden (vgl. Miehling 2007a, S.9). Allerdings idealisiert er damit auch diese Musik und deren Macher etwas zu sehr. Auch in der klassischen Musik - wobei wir diese Definition nun einmal sehr weit fassen und auch die Epochen der Renaissance und des Barock wie auch die Zeit bis etwa 1900 mit einbeziehen - finden wir unter den vermeintlichen "Gewaltmusikern" bereits eine Zahl von "Delinquenten", aber auch viele Kandidaten, bei denen man dies aus heutiger Sicht kaum nachvollziehen kann. Schon die berühmten Musiker jener Zeiten entsprachen nicht unbedingt den damals herrschenden Konventionen, waren geprägt von körperlichen und psychischen Leiden, teilweise waren sie sogar Verbrecher im heutigen Sinne. Diese Aspekte werden im folgenden diskutiert.

2.1. "Neuartig und unerhört"

2.1.1. Ein Exkurs zu der Frage, wer wen beeinflußt

(1) Miehling präsentiert in seinen "Gewaltmusik-Nachrichtenbriefen" zahlreiche Kritiken an den Musikgenres, die er als "Gewaltmusik" ansieht, die während deren Entstehungszeit formuliert wurden. Im Jahr 1922 verkündeten etwa selbsternannte "Wächter der Moral", die "Musik der Jazzorchester" führte zu sexueller Enthemmung und in den moralischen Untergang (vgl. Miehling 2008, S.2). Er zitiert Rowntree+Lavers (1951), daß der "moderne Ball-Tanz" zu "ungebärdige[m] Verhalten" und "sexuelle[r] Unsicherheit" führe (vgl. Miehling 2008c, S.9). Der Vorsitzende eines Gremiums der Schallplattenindustrie postulierte - ebenso in den 1950er Jahren -, daß "[a]lle R&B-Schallplatten [...] für Kinder so schlecht wie Rauschgift" seien (vgl. ebd., S.14). Er beläßt es allerdings nicht dabei, sondern bezieht sich auch auf grundsätzliche Erwägungen, die etwa bis auf die Anfänge der Musiktheorie zurückgreifen. So hätten bereits nach der Auffassung des griechischen Philosophen Plato bestimmte Tonarten und Rhythmen "einen Unordnung stiftenden und verweichlichenden Einfluß" (Miehling 2008, S.1). Allerdings ist die Validität dieser Äußerungen durchaus anzuzweifeln, wenn man bedenkt, daß diese häufig aus moralisierenden Gründen oder aus intuitiv gebildeten Denkhaltungen heraus entstanden sind. Miehling gebraucht diese aber wie Fakten. Schließlich führt Miehling nun an, daß im Versuch mit Mäusen diese die höchste sexuelle Aktivität zeigten, wenn sie klassischer Musik ausgesetzt gewesen seien (vgl. Miehling 2008, S.8). Sofern Mäuse eine dem Menschen vergleichbare Psyche hätten, wäre dies eine Aussage, die im Kontrast zu der vorherigen stünde.

(2) Zum anderen sind solche Einschätzungen auch nicht durchgängig, sondern gibt es auch in der Historie durchaus Positionen, die genau eine umgekehrte Wirkung, d.h. von der Stimmung auf die Musik, nahelegen. Im chinesischen "Buch der Riten" ("Li Gi"), von dem Teile bis auf den Philosophen Konfuzius zurückgehen, heißt es etwa, daß die Musik die Stimmungen des Herzens ausdrücke. In einem Land, das gut regiert werde, sei die Musik der Menschen friedlich. Unterdrücke ein Herrscher aber seine Untertanen, dann sei dort wütende oder traurige Musik zu hören. Es wird nun zwar von der "Wirkung der Musik" gesprochen, etwa, daß aus der Reinheit oder Unreinheit bestimmter Töne die Reinheit oder Unreinheit des Verhaltens bestimmter Gruppen der Bevölkerung entstehe (vgl. "Die Grundlagen der Musik", abgerufen am 16.07.2008), oder daß die Musik die Menschen zu einem bestimmten Verhalten erziehe. Allerdings wird sie dann doch eher als ein intermediäres Konstrukt oder als ein Indikator für die moralische Qualität des Handelns des Herrschers - und damit im Sinne eines Scheinkorrelats mit dem tatsächlichen Verhalten des Volkes - betrachtet (vgl. "Wirkung der Musik", abgerufen am 16.07.2008)

"Diese Verweigerungshaltung ist nicht jugendtypisch."
(Staatsanwalt beim Prozeß gegen einen Totalverweigerer)

Nun würde nämlich niemand behaupten wollen, daß die USA deshalb Krieg in und gegen Vietnam geführt hätten, weil es Beat- und Rockmusik gegeben habe. Zumindest die ernsthaften und nicht primär kommerziell ausgerichteten Musiker waren gegen den Krieg eingestellt, und die Entscheidung zu diesem Krieg, dem letztlich Millionen Menschen zum Opfer fielen, war durch Personen getroffen worden, die diese Musik ihrerseits selbst nicht hörten oder sogar als unmoralisch ansahen. In dieser Sicht wäre es eben zu einfach, die von Jugendlichen gehörte Musik für deren vermeintliches oder tatsächliches Fehlverhalten verantwortlich zu machen. Dieser Weg war allerdings all zu leicht, da man auf diese Weise von dem eigenen Versagen ablenken konnte. Die Jugend war eben nicht primär durch ihr eigenes Verhalten den älteren Generationen entfremdet, sondern sie hatte das Verhalten der älteren Generationen als bigott und doppelmoralisch erkannt. Es paßt halt nicht zusammen, sich gleichzeitig als Moralapostel zu präsentieren, die die Jugend vor der "Verwahrlosung" durch Beatmusik, Pornographie und Alkohol "schützen" wollten (teilweise zu dem Preis, daß wer zweimal zu spät nach Hause kam, sich darauf einstellen durfte, den Rest seiner Jugend in einem kirchlichen Prügelheim zu verbringen; vgl. ), andererseits aber Kriege zu führen, in denen Millionen Menschen umkamen, oder Parteigänger der Nazis, die sich durchaus selbst schuldig gemacht hatten, in hohen Positionen zu belassen. Daß die Jugend sich da irgendwann verweigerte, war bloß folgerichtig.

(3) Schließlich darf auch nicht außer Acht gelassen werden, daß selbst wenn man eine Wirkung unterstellt, diese Wirkung doch von anderen Faktoren abhängig sein kann. So stellt man möglicherweise selbst an sich fest, daß ein und dasselbe Musikstück abhängig von der eigenen Stimmung diese möglicherweise verstärkt oder im anderen Fall auch gar keine Wirkung haben kann.

2.1.2. Die beständige Aktualität der Kritik an der "modernen Musik"

(1) Das Phänomen der Musikkritik betrifft nicht nur die letzten Jahrzehnte, sondern auch die von Miehling so geschätzten "klassischen" Musiker. Häufig wurde deren Musik "zuviel Modernität" attestiert, verwenden einige Kompositionen Bilder oder Stilelemente, die erst Jahrhunderte später verstanden oder wieder aufgegriffen wurden (vgl. Wikipedia: Claudio_Monteverdi; Wikipedia: Carlo_Gesualdo; Wikipedia:Beethoven; "Musikpassagen: Freaks und Mavericks der Musikgeschichte"), während uns heutzutage häufig der gedankliche Schlüssel fehlt, mit dem wir erkennen könnten, was damals so "unerhört" und/oder "neuartig" war (vgl. dazu etwa Collins (2005) über die Rolle der Sexualität in Pedro Calderón de la Barcas Dichtung). Ein anderes Beispiel mag Stefano Landis Lied "T'amai gran tempo" (Text siehe etwa Murata 2003) sein, in dem das lyrische Ich davon berichtet, daß es seine untreue Freundin einfach über habe, und sich auch über die schwüstigen Liebesgedichte lustig macht ("Magst Du auch klagen,/ ich will es nicht hören,/ denn Du weißt ja: 'Der schwarze Vogel ist fortgeflogen und hat den Po bereits überquert.'/ Lauf schnell, dann kannst Du ihn vielleicht noch sehen").

Miehling greift zur "Untermauerung" seiner Auffassungen gerne auf Beurteilungen von Kulturkritikern zurück, die zur Zeit der Entstehung der betreffenden Musikgenres getroffen wurden. Geht man aber so vor, so müßte man z.B. auch die Musiken von Monteverdi, Schubert oder Schumann als gänzlich schrecklich verurteilen (s.u.) und sich völlig gegen die Entwicklung neuer und die Ersetzung überkommener Formprinzipien stellen. Bezeichnenderweise haben entsprechend die Werke der Kritiker, soweit diese selbst z.B. dichterisch oder kompositorisch tätig waren, häufig nicht bis heute überlebt. Zu stark an überkommenen Formprinzipien orientiert waren diese Werke doch, die in Zeiten hineinfielen, als die Menschen vor allem an neuer Musik interessiert waren. Dies betraf aber freilich nicht bloß Nichtskönner oder notorische Pessimisten. So erlebten auch Johann Sebastian Bach und Georg Friedrich Händel, die ja als große Künstler angesehen werden, am Ende ihres Lebens, wie die von ihnen produzierte Musik an Beliebtheit verlor. So mögen Kritiken zum Teil auch daraus erwachsen, daß sich jene Künstler damit um ihr Lebenswerk betrogen sahen.

Im folgenden seien beispielhaft einige dieser Kritiken genannt und auch in Rückschau bewertet, in wieweit sie überhaupt tragen konnten.

a. Insbesondere die religiöse Musik vor Monteverdi war primär nach mathematischen Gesichtspunkten konstruiert worden, die z.B. den Maßangaben des salomonischen Tempels in der Bibel entlehnt waren. Diese Maße hatten ebenfalls die Architektur von Sakralbauten bestimmt (vgl. "Musikpassagen: Der Klang der Steine", WDR3, 07.05.2008). Noch lange wurden selbst Tonarten nach ihrem symbolischen Gehalt gewählt, so wurde etwa die Tonart Es-Dur mit ihren drei Vorzeichen als Abbild der Dreifaltigkeit angesehen (vgl. "Musikhaus WDR: Telemanns Kirchweihoratorium für St.Georg in Hamburg (1747)", WDR3, 18.05.2008).

Im Sinne von Monteverdis "seconda prattica" fand nun eine Konzentration auf die Empfindungen des Hörers statt. Giovanni Maria Artusi kritisierte im Jahr 1603 diesen für die Zeit neuartigen Stil, die "seconda prattica", daß dieser nicht nur die traditionellen Kompositionsregeln, sondern auch den Verstand des Menschen verachte und letztlich "das Ende der guten Musik" sei (vgl. Kaiser 2006, S.1f.). Ansonsten wird Monteverdi nicht nur als Anfangspunkt des Barock, sondern in mancher Hinsicht auch als singulärer Pol angesehen: Nach Gary Tomlinson (2000) ist Claudio Monteverdi der eigentlich letzte Komponist vor dem 20.Jahrhundert, der das Publikum unmittelbar in die Emotionen der dargestellten Figuren mit einbezog, bevor mit der völligen Ausbildung der Musik des Barock die "vierte Wand" eingeführt wurde, die den Zuschauer von der Handlung trennte. Die Trennung von Bühnenhandlung und Zuschauer wurde zu der Zeit, da sie neu eingeführt wurde, dafür kritisiert, daß sie die Zuschauer zu "Voyeure[n]" reduziere (vgl. S.48f.). Kant bezeichnete diese Form als "trivial" (vgl. ebd., S.57). Erst in der modernen Musik wird diese Trennung wieder aufgehoben, die Idee der Einheit wieder aufgegriffen (vgl. ebd., S.58).

b. In seiner vorletzten Oper "Ritorno d'Ulisse in Patria" verwendete Claudio Monteverdi teilweise ganz ähnliche Rhythmen wie über 300 Jahre später Bill Haley (vgl. etwa den Schluß von "Sono l'altre Regine" (II.Akt/8.Szene)). Miehling äußerte in seiner Nachricht an mich nun süffisant, daß dieser Sachverhalt letztlich ohne Belang sei, da Monteverdi ja auch "ganz ähnliche Noten" verwendet habe. Allerdings führt Miehling dadurch auch seine eigene Argumentation ad absurdum, da er ja zum Beispiel die Verwendung bestimmter Rhythmen oder Instrumentierungen als bezeichnendes Kennzeichen für "Gewaltmusik" angeführt hatte (s.o.). Dies hinterläßt doch den Eindruck eines Kulturkritikers, der mehr oder weniger aus prinzipiellen Gründen gegen Musik bestimmter Genres eingenommen ist.

c. Das Genre des Madrigals, in dem sie unter anderem komponierten, wurde aber gleichermaßen von der päpstlichen Inquisition als "anstößig" und "unmoralisch" verfolgt (vgl. Goodman 2000, S.60-62). Auch die Instrumente selbst wurden damals kritisiert: Die damals noch neue Violine wurde als "laut und lasziv" angesehen, während feinere Gemüter "vornehme" Instrumente wie die "viola da gamba" (vgl. "Da spalla, d'amore, bastarda - Vergessene Streichinstrumente neu entdeckt", "Musikpassagen", WDR3, 07.04.2008) bevorzugten.

d. Jean-Philippe Rameau wurde am Ende der Barockzeit als ein ähnlicher "Revolutionär" gesehen wie zu Anfang Claudio Monteverdi. Was genau allerdings an seinen Stücken um 1750 (Rameau, geboren 1683 und damit in etwa so alt wie Johann Sebastian Bach, war ja kein sprichwörtlicher "junger Wilder" mehr) so "unerhört" neu (vgl. "Musikpassagen - Träume, Visionen und Rückblicke im Alter", WDR3, 24.04.2008) gewesen sein mag, erschließt sich beim Hören zunächst nicht, da die Stücke vom Stil her doch weitgehend an den des französischen "Säulenheiligen" Lully erinnern.

e. Eigentlich "unwahrscheinliche Kandidaten" für eine Medienkritik sind etwa Franz Schubert oder Robert Schumann. Doch selbst Schuberts Vertonung (und damit natürlich auch Goethe) von Goethes Gedicht "Heideröslein" kann sexuell ausgedeutet werden: "Rosen brechen" ist nälich ein alter Euphemismus für die Entjungferung eines Mädchens. Diese Phrase findet sich auch in Texten von Johann Sebastian Bach (in BWV 86: "Wahrlich, wahrlich ich sage Euch"). Robert Schumanns hatte die "Kreisleriana", einen Zyklus von Klavierstücken auf einen Roman von E.T.A. Hoffmann, 1838 als Liebesgabe an seine spätere Ehefrau gerichtet hatte. Diese Stücke wurden seinerzeit von einem Kritiker mit der Aussage bedacht, sie hätten "keine intelligible Struktur" und man könne eigentlich auch keine Noten, sondern viel mehr nur Schläge erkennen, die ein Mensch gegen einen anderen ausübe. Die "Kreisleriana" waren ihrerseits auch nicht vorbildlos, sondern Schumann berief sich dabei auf Johann Sebastian Bachs "Wohltemperiertes Klavier"... (vgl. "Musikpassagen: Mythische Gewebe", WDR3, 11.04.2008). Und trotzdem würde Miehling nicht sagen wollen, Bach, Schubert oder Schumann seien "Gewaltmusiker" gewesen oder hätten sich in "Obszönitäten" ergangen. Sondern diese Beispiele zeigen, wie sehr solche Gedanken doch in unserer Kultur verwurzelt sind, sie geprägt haben und wie wenig wir darüber nachdenken, ob solche Worte in früheren Zeiten nicht möglicherweise sogar Menschen gekränkt hätten, wenn wir so "frei" gesprochen hätten wie es heute gepflegt wird.

f. Jener E.T.A.Hoffmann soll schließlich 1809 mit einer kleinen Komposition quasi den Duktus des Tango erfunden haben. Dies war ein Tanz, der wegen seiner "erotischen Spannung" zunächst verpönt war (vgl. "Freaks und Mavericks der Musikgeschichte").

h. Und auch über kulturelle Grenzen hinweg sind solche Kritiken festzustellen. So meinte der Musikwissenschaftler Aishi Kikawa (1984), daß schließlich die "moderne westliche Musik" seit Beethoven ohnehin viel zu schnell und zu wuchtig sei, um sie noch genießen oder reflektieren zu können. Er setzte sich stattdessen für eine Wiederherstellung bzw. Übertragung von Formen der traditionellen japanischen Musik ein, die allerdings für die meisten Menschen geradezu klaustrophobisch langsam sind (vgl. "Musikpassagen: Von der Entdeckung der Langsamkeit", WDR3, 03.06.2008).

Wenn wir nun allen diesen Beurteilungen folgen würden, würde sich unsere Musik nicht sehr von der unterscheiden, wie sie meinetwegen im 16.Jahrhundert gepflegt wurde, vielleicht sogar nicht einmal in Europa, sondern in Japan. Schließlich sind einige der Kritiken auch schlicht widersprüchlich. Schließlich fällt überhaupt schwer zu entscheiden, welche dieser Kritiken wirklich "stichhaltig" sind:

(2) Betrachten wir diese Kritiken an Formen der Musik, die zu ihrer Entstehungszeit formuliert wurden, so fällt weiterhin auf, daß diese Einschätzungen zwar aus psychologischen Abneigungen erklärt werden können, aber nicht den heutigen Bewertungen entsprechen. Wenn Miehling nun in ungezählten Fällen seine "Gewaltmusiken" mit Stimmen von Kritikern aus ihrer Entstehungszeit in negativem Licht darzustellen versucht, so macht er den Fehler anzunehmen, daß die damalige Einschätzung der Medienkritiker objektiv gerechtfertigt gewesen sei (vgl. dazu auch Codex flores Kritiken: Klaus Miehlings "Gewaltmusik - Musikgewalt", abgerufen am 29.09.2008). In den 1950er Jahren waren zum Beispiel die "Altvorderen" noch besonders besorgt um die "Moral und Weltanschauung der Jugend". Dieses "Kümmern" wurde allerdings von dieser nicht ohne Grund als erdrückend empfunden.

2.2. "Von Gaunern" und "für Gauner"



Eben komme ich aus der [...]probe, wo ich zum ersten Mal in meinem Leben eine Partitur entzwei geschlagen habe vor Ärger über die dummen Musici […]. Dazu prügeln sie sich gern im Orchester [oder verprügeln den Dirigenten].“
(Felix Mendelssohn-Bartholdy am 16.01.1834 über eine von ihm geleitete Orchesterprobe in Düsseldorf,
vorgetragen von Christoph Spering, zitert nach: „Scala“, WDR5, 03.02.2009)

Wo bleibt der Tod im schwarzen Kleide,
wo bleibt der Tod und tötet mich?
Oder besser noch: Uns beide.
Oder besser: erstmal Dich.“
(Heinz Erhardt, „Der Einsame“. So manchen wird es irgendwie an Rapmusik erinnern.)

Miehling identifizierte seiner eigenen Aussage nach unter den "populären Musikern" im letzten Jahrhundert zwanzig Mörder, und behauptet, daß unter "klassischen Musikern" wohl kaum so viele zu finden seien (vgl. Kommentar zum Beitrag von "T.Eisenmann" vom 17.01.2008 im Gästebuch von Dr.Klaus Miehling, abgerufen am 30.04.2008). Unter den von Miehling so hochgehaltenen "klassischen" Musikern finden sich allerdings auch viele Personen, die nicht so "moralisch integer" waren wie Miehling sich erhofft. Exemplarisch können zunächst einmal ein paar Fälle von häufig auch sehr begabten Musikern und Künstlern aufgezeigt werden, die ihrerseits kriminell waren oder nach den damaligen Vorstellungen - und diese sind für Miehling ja entscheidend, wie die Auswahl seiner Zitatquellen aufzeigt - "unmoralisch" handelten.

a. Leonardo da Vinci und Michelangelo Buonarotti gehören zu den noch heute berühmtesten Künstlern der Renaissance. Gelobt werden sie insbesondere für ihre naturgetreue Darstellung menschlicher Körper. Um diese realisieren zu können, betrieben beide Künstler intensive Studien. Dies allerdings nicht nur an lebenden Menschen, wie etwa Skizzen von menschlichen Gesichtern zeigen. Sondern beide führten auch Obduktionen an Leichen aus, womit sie zu ihrer Zeit hohe Strafen riskierten (vgl. "Leonardo da Vinci", abgerufen am 23.05.2008) (Leonardo erhielt erst sehr viel später eine offizielle Erlaubnis dafür, vgl. , abgerufen am 23.05.2008). Interessant ist auch, daß Michelangelo vielleicht deshalb zu den Aufträgen gelangte, die ihn später weltberühmt machen würden - die Pieta, den David oder auch die Ausmalung der Sixtinischen Kapelle -, weil er sich in jungen Jahren an einer Gaunerei beteiligt hatte, einem Kardinal, den man für dumm hielt, eine neue Statue als antik zu verkaufen. Der Kardinal, der den Betrug bald entdeckte, lud den Künstler allerdings dafür nach Rom ein, wo Buonarroti wichtigen Auftraggebern begegnete (vgl. Wikipedia: Michelangelo Buonarroti; abgerufen am 23.05.2008).

b. Die Renaissancekomponisten Bartolomeo Tromboncino und Carlo Gesualdo, von denen leidenschaftliche und sehnsüchtige Liebeslieder stammen, waren Kriminelle: Ersterer hatte zumindest ein sehr unstetes Leben geführt und hatte nach einem entdeckten Seitensprung seiner Ehefrau mindestens diese (vgl. Wikipedia:Bartolomeo_Tromboncino), Letzterer hatte gemeinsam mit mehreren Spießgesellen seine Frau, deren Liebhaber und auch eine kleine Tochter, deren Vaterschaft er nicht sicher war, grausam umgebracht - konnte allerdings nicht strafrechtlich belangt werden (vgl. Wikipedia:Carlo_Gesualdo). Deren Musik war ihrer Zeit um Jahrhunderte voraus.

c. Im Jahre 1655 entfloh der Komponist Johann Rosenmüller, immerhin an der Leipziger Thomasschule ein Vorgänger Johann Sebastian Bachs, dem Gefängnis, in das er gekommen war, weil ihm eine Liaison mit einem Chorknaben vorgeworfen wurde, und lebte für die nächsten fast 30 Jahre in der Fremde, wobei er unter anderem am Ospedale della Pietà in Venedig dieselbe Position bekleidete wie einige Jahrzehnte später Antonio Vivaldi (vgl. Wikipedia:Johann_Rosenmüller). Trotzdem sich Georg Friedrich Händels Opern alle irgendwie gleich anhören, wurden sie zum Teil - z.B. "Semele" - zu ihrer Zeit als "obszön" verrissen (vgl. "Theater im ZDFtheaterkanal: Semele" , abgerufen am 26.06.2008), die Arien "verführen und verderben" (vgl. 3sat, "Kulturzeit", 26.06.2008). Wolfgang Amadeus Mozart starb möglicherweise an der Syphilis (vgl. Wikipedia:Wolfgang_Amadeus_Mozart), Beethoven an den Folgen seines Alkoholmißbrauchs (vgl. :).

d. Klassische Musik mußte nicht unbedingt "abgehoben" sein und mit der mitunter brutalen Lebenswelt der Menschen nichts zu tun haben. Im Verständnis von Wolfgang Amadeus Mozart war sogar ein wesentliches Merkmal der "Klassik" die Allgemeinverständlichkeit (vgl. Gaiser 2006, S.51f.). Als ein exemplarisches Beispiel für eine solche Philoosphie werde John Gays "Beggar's Opera" (zu Deutsch "Des Bettlers Oper") betrachtet. Darin wurden bewußt Menschen von "zweifelhaftem Ruf" dargestellt, die sich in ihrem Handeln kaum durch moralische Erwägungen beschwerten. Dies wurde zur damaligen Zeit tatsächlich kritisiert und Gays Oper als gefährlich dargestellt: So wurde ihm die Verherrlichung von Gaunern vorgeworfen, deren Handeln einerseits so bar jeder Moral ist - dies ist süffisant, da er ja gerade auf die Moral des "besseren Publikums" abgestellt hatte -, und gaben Gefangene in Londons Newgate-Gefängnis zu Protokoll, sie hätten sich vor der Begehung ihrer Taten mit Liedern aus der Oper Mut gemacht (vgl. "Königin und Bettelmann", "Musikpassagen", WDR3, 28.03.2008). Allerdings hatte Gay "Gassenhauer" und Anekdoten über berühmt-berüchtigte Gauner, die sich als Saubermänner darstellten (darunter den Hehler und Gangsterboß Jonathan Wild und den damaligen Premierminister Robert Walpole), verarbeitet, die zu ihrer Zeit Jeder kannte, und ggf. nur mit neuen Texten versehen. Darüber hinaus kritisierte Gay auch die damals übliche Praxis des "lieto fine", daß eine Oper stets gut ausgehen müsse (vgl. Gier 2000, S.117f.), indem der verurteilte Gauner Macheath auf Wunsch des Zuschauers durch die Wirkung des "deus ex machina" vor dem Galgen bewahrt und damit auch die Moral des Stücks ruiniert wird:

"But, honest friend, I hope you don't intend that Macheath shall be really executed. [...] The catastrophe is manifestly wrong, for an Opera must end happily."
-- "Your objection, sir, is very just; and is easily remov'd. For you must allow, that in this kind of drama, 'tis no matter how absurdly things are brought about. [...] Let the prisoner be brought back to his wives in triumph. [...] Had the play remain'd as I first intended, it would have carried a most excellent moral. 'Twould have shown that the lower sort of people have their vices in a degree as well as the rich: And that they are punish'd for them."

(John Gay, "The Beggar's Opera", III.Akt, letzte Szene

Tatsächlich wurde John Gays nächstes Projekt "Polly", das als Nachfolger zur "Beggar's Opera" gedacht war, auf Intervention von Robert Walpole verboten - primär, weil Walpole sich persönlich beleidigt gefühlt hatte -, und bis an sein Lebensende war der Komponist finanziell ruiniert. Nach heutigem Verständnis erscheint die "Beggar's Opera" allerdings recht konventionell, der "Schlüssel", mit dem wir das Stück als "skandalös", "obszön" oder Ähnliches interpretieren könnten, ist heute nicht mehr gegeben -- das Verständnis hat sich verändert.

Hieraus läßt sich an vielen weiteren Beispielen zeigen, daß auch die "hohe Musik" ohne die "volkstümliche" nicht leicht denkbar gewesen wäre, griffen Komponisten in der ganzen Musikgeschichte auf, so etwa Orlando di Lasso (vgl. Marius Meller in "Büchermarkt" über Joachim Kalkar "Hoch unten", DLF, 24.10.2008) oder auch mittelalterliche Komponisten (vgl. "Vesper: Mittelalterliche Endzeitfragmente", WDR3, 16.11.2008) auf volkstüliche Lieder zurück, die keinesfalls den "religiös-erbaulichen Charakter" hatten. (Oder ob den Machern von "Die Tudors" gegenwärtig war, daß die "Volta", die den Auftakt zu einer Liebesnacht zwischen König Heinrich VIII. und "seiner" aktuellen Königin Anne bildet, aus den "Cantigas de Santa Maria" (No. 166: "Como poden per sas culpas") stammt, die vermutlich ihrerseits aber ebenso adaptiert wurde?).

e. Andererseits zum Jazz: Auch dieser ist keine "funktionslose" Musik, sondern ist Ausdruck eines bestimmten Selbstverständnisses. Der Jazz hat seinen Ursprung in der Musik Afrikas, bzw. der Musik derer, die aus Schwarzafrika als Sklaven nach Louisiana verschleppt worden waren. Bestimmte Orte in New Orleans entwickelten sich für diese zu gesellschaftlichen Mittelpunkten, an denen sie ihre wenigen Freiheiten, etwa Musik zu machen, ausleben konnten. Indessen lebten allerdings auch nach dem Verbot der Sklaverei die Weißen in der ständigen Angst, die schwarze Minderheit könne sie entmachten und sich an ihnen rächen. Um dies zu verhindern, reagierten die Weißen mit Repression gegen die Menschen und auch gegen die Orte, an denen sie sich versammelten, die natürlich zur Rechtfertigung auch als Sündenpfuhle, ihre Musik aber als "vertontes Böse[s]" dargestellt werden mußten (vgl. Soblett xx; Miehling 2008, S.2). Andererseits war die "klassische" Musik nichts anderes als die Musik der Sklavenhalter.

e.1. "Die Musik der Ureinwohner als besonderes Merkmal der Degeneration"

Im "Gewaltmusik-Nachrichtenbrief" Nr.9 vom 1.Dezember 2007 zitiert Miehling eine Statistik, nach der Stammesgesellschaften besonders gewalttätig seien. So sei die Mordrate eines Volkes auf Papua-Neuguinea zwanzigmal höher als in New York oder hundertmal höher als in deutschen Städten. Die sarkastische Überschrift für diesen Abschnitt hatte ich gewählt, da Miehling wieder einmal davon überzeugt war, daß diese Umstände letztlich auf deren Musik, die "ja prinzipiell aus rhythmischem Trommeln besteht" (ebd., S.50), zurückzuführen seien (vgl. Miehling 2008a, S.50) -- er präsentiert also auch hier wieder eine eindimensionale Sicht.

Allerdings sind Kulturen komplexe Gebilde. Sie sind durch vielerlei Merkmale charakterisiert, die in vielfältigen Interaktionen zueinander stehen, und können ggf. auf verschiedenen Ebenen analysiert werden. Um so weniger kann das Wesen einer Kultur allein durch ihre Musik erklärt werden. Im Sinne des "Zwiebelmodells" von Blom und Meier (vgl. Reimer 2005, S.9-11) stellen Musik und Tanz zwar sichtbare Artefakte einer Kultur dar, darunter liegen allerdings die nicht oder nur zum Teil explizit dargestellten Grundannahmen, etwa über das Wesen des Menschen, den Begriff der Wahrheit etc. und die Werte und Normen, also Verhaltensmaßregeln, dar. Auch Kulturen, die sich hinsichtlich sichtbarer Artefakte kaum unterscheiden, können nun indessen sehr unterschiedliche Grundannahmen aufweisen (vgl. Welge+Holtbrügge 2003, S.). Vielleicht würde nicht einmal Miehling behaupten wollen, die spanische Musik der Renaissance habe die Inquisition oder die blutige Kolonisierung Mittel- und Südamerikas im 16.Jahrhundert beflügelt. Geldgier und religiöse Vorstellungen, "Institutionen" wie die Blutrache, der Glaube an den "bösen Blick" oder die Vorstellung, daß das Töten von anderen Menschen die eigene Seele unsterblich mache (vgl. Prescott 1975, S.13), sind sicherlich kein Produkt der Klangfarben oder Rhythmen ihrer Musik. Verschiedene Disziplinen der Forschung entwickeln dabei die Betrachtung von Kulturen in unterschiedliche Richtungen:

a) Im Rahmen der interkulturellen Managementforschung wurden von verschiedenen Wissenschaftlern Modelle erarbeitet, mit denen Kulturen hinsichtlich verschiedener Dimensionen verortet werden können. Diese Dimensionen sind dabei natürlich zum Teil miteinander bzw. über die Modelle hinweg miteinander korreliert.

Das Modell von Kluckhohn und Strodtbeck war das erste, in dem Unterschiede von Kulturen mit Hilfe von Dimensionen aufgeschlüsselt wurden. Zwei wichtige Dimensionen aus diesem Modell sind etwa die Annahme über die Natur des Menschen, die diese trifft - d.h. ob der Mensch hier als eher gut oder schlecht angenommen wird, wirkt sich auf das Vertrauen des Menschen gegenüber Anderen aus - und das Verhältnis des Menschen zur Natur, d.h. ob diese eher ausgebeutet wird oder der Mensch sich ihr eher anpaßt (vgl. Reimer 2005, S.31).

Im Modell von Hall erscheinen etwa der Context, der einen Einfluß auf die Formen der Kommunikation ausübt. Sogenannte "low context"-Kulturen sind durch lockere und veränderliche Beziehungen gekennzeichnet. Um hier ein eindeutiges Verständnis zu entwickeln, müssen Botschaften sehr eindeutig und umfangreich codiert werden, während in "high context"-Kulturen zwischenmenschliche Beziehungen sehr dauerhaft und tiefgründig sind und viele Informationen bereits aus diesen heraus formuliert und entsprechend nicht implizit ausgesprochen werden müssen. Eine weitere Dimension ist der Space, der das Verhältnis zwischen der Privatsphäre, d.h. dem Raum, den ein Dritter nicht ohne Erlaubnis betreten darf, und dem Territorium, d.h. dem Raum, den man als persönliches Eigentum ansieht, ausdrückt (vgl. Reimer 2005, S.32f.).

Eines der bekanntesten und in der Literatur bei aller Kritik am häufigsten verwendeten Kulturmodelle ist das sog. 5D-Modell von Geert Hofstede (vgl. Reimer 2005, S.44-57). Hofstede stellte insgesamt fünf Dimensionen auf, die je nach ihrer Ausprägung Konsequenzen für das Verhalten gegenüber Mitgliedern der eigenen bzw. fremden Kulturen haben. So bestimmt die sog. Machtdistanz ein Maß für die Akzeptanz und Darstellung hierarchischer Unterschiede zwischen Menschen dar. Die Unsicherheitsvermeidung ist ein Maßstab dafür, wie stark eine Kultur sich durch unklare oder unbekannte Situationen bedroht fühlt und infolge dessen auch für das Bestreben, diese durch Vorschriftsbildungen zu vermeiden. Eine Kultur mit einer hohen Unsicherheitsvermeidung wird entsprechend durch eine hohe Regelorientierung und Streßneigung gekennzeichnet sein. Der Invidualismus bemißt den Stellenwert der Selbstverwirklichung in einer Kultur. Individualistische Kulturen sind durch lockere Bindungen zwischen den Personen und einen hohen Egoismus gekennzeichnet, während kollektistische Kulturen geschlossene Gemeinschaften bilden, die eine hohe Schutzwirkung ausüben, dafür allerdings auch eine hohe Loyalität verlangen (vgl. Reimer 2005, S.16-20). Kollektivistische Kulturen besitzen insofern auch eine höhere Gewaltneigung, als sie die Empfindungen des Einzelnen dem Zusammenhalt der Gruppe unterordnen (vgl. ). Maskuline Kulturen sind stark materialistisch orientiert, unterscheiden die Geschlechter nach ihrer Wertigkeit und haben eine höhere Konfliktneigung, während feminine Kulturen eher auf Werte wie Zusammenhalt ausgerichtet sind. Schließlich bemißt die langfristische Orientierung den Zeithorizont von Planungen genauso wie die Beharrlichkeit gegenüber Veränderungen (vgl. Reimer 2005, S.21-23). Eine mögliche Darstellung dieses Modells ist der sogenannte Kultur-Radar-Chart (vgl. Reimer 2005, S.61f.), das im Konfliktfeld zwischen der Maskulinität und der Unsicherheitsvermeidung verschiedene Abstufungen einer Risikobereitschaft aufzeigt, im Feld zwischen Individualität und Machtdistanz aber verschiedene Dimensionen von Pathologien aufzeigt, so etwa Paranoia (Verfolgungswahn), Hybris (Großartigkeitswahn) oder Kontrollwahn einer Kultur.

Ein weiteres Modell ist das von Fons Trompenaars, das hier z.B. zwischen neutralen und affektiven Kulturen unterschiedet. In affektive Kulturen werden Gefühle vielfach öffentlich z.B. durch Gesten ausgedrückt, während neutrale Kulturen Gefühle eher unterdrücken (vgl. Reimer 2005, S.33f.).

Schließlich liefert das Projekt-GLOBE-Modell u.a. die Dimension der assertiveness , die ein Maß für die Aggressivität in zwischenmenschlichen Beziehungen darstellt (vgl. Reimer 2005, S.36).

b) Der Neuropsychologe James W. Prescott wirft mit seiner Betrachtung (Prescott 1975) der Zusammenhänge zwischen in verschiedenen Kulturen geübten Formen der Gefühlsdarstellung und -auslebung und Kennzeichen von Gewalttätigkeit eine weitere Betrachtungsebene auf. Im Zuge einer Analyse von 49 tribalen Kulturen zeigte Prescott einen Pfad auf, der von der Darstellung der physischen Zuneigung von Eltern gegenüber ihren Kindern (z.B. durch Umarmungen) über die Moralvorstellungen in diesen Kulturen bis hin zur Gewalttätigkeit unter den Erwachsenen herausgearbeitet. So zeichnen sich Kulturen, die eine niedrige Gewaltneigung unter den Erwachsenen zeigen, entweder durch einen hohen Grad an physischer Zuneigung oder durch die Zulassung vorehelicher Sexualität aus. In Kulturen, die eine hohe Gewaltneigung haben, zeigen die Eltern entweder wenig körperliche Zuneigung gegenüber ihren Kindern, oder in ihnen werden vor- und außereheliche Beziehungen moralisch verpönt oder bestraft. In jeweils ca. 70% der Fälle, in denen voreheliche Sexualität in Kulturen moralisch verurteilt wird, finden sich in ihnen auch eine hohe innere Gewalttätigkeit (gegen Mitglieder), äußere Gewalttätigkeit (gegen andere Gruppen) und das im obigen Verweis von Miehling angeführte "exhibitionistische Tanzen". Prescotts Argumentationsmodell ist insofern auch auf größere staatliche Einheiten wie etwa die USA anwendbar (vgl. Prescott 1975, S.13-15).

c) Schließlich war bereits in anderen Untersuchungen festgestellt worden, daß vormoderne Gesellschaften auch in Europa eine deutlich höhere Mordrate besaßen - im Verhältnis eine möglicherweise um so viel höhere, wie hier nun für Papua-Neuguinea vorgefunden wird (vgl. Thome 2001, S.).

e.2. "Der lächerliche Versuch der eigenen Identitätsbildung"

Analog muß man auch auseinandersetzen, was in den 1950er Jahren Rock'n'Roll für die Jugend darstellte: Junge Menschen möchten auch Kunst- oder Unterhaltungsformen, Begriffe etc. exklusiv für sich haben, die von Erwachsenen nicht mehr konsumiert, verwendet oder begriffen werden. Dies war die erste Musikform, bei der dies der Fall war.

"Keine Panik, liebe Eltern: Die Aktion 'Sauberer Bildschirm - Sauberes Volk' wird bald fortgesetzt, zunächst allerdings etwas mediale Volksverhetzung."
(Uschi Nerke(?), Moderatorin des "Beat-Club"; zitiert nach "Unsere 60er Jahre", ARD).

Nun bemerkte Miehling in einem seiner "Gewaltmusik-Nachrichtenbriefe" (vgl. 2008d, S.), daß trotzdem es doch "ihre" Musik war, die etwa im legendären "Beat-Club" und ähnlichen Sendungen seit den 1960er Jahren in Fernsehen und Radio verbreitet wurde, die jugendlichen Zuhörer doch recht bräsig dagesessen hätten. Nun waren bereits Rock'n'Roll und Beatmusik sicherlich eher darauf zugeschnitten, daß man sich zu ihnen bewegte. Andererseits saßen die Jugendlichen aber auch zur Musik von anspruchsvolleren Künstlern nicht anders da (vgl. etwa einen Ausschnitt aus einem Auftritt des Singer/Songwriters Phil Ochs aus einer ähnlichen Sendung des schwedischen Fernsehens). In anderen Sendungen, in denen getanzt werden konnte, wurde dann auch getanzt. Das war Miehling allerdings auch nicht recht.

2.3. Wenn wir uns darüber hinaus vor Augen führen, daß sehr viele - seinerzeit auch durchaus berühmte Musiker - heute vergessen sind, kommen wir von exemplarischen Fällen ggf. recht schnell auf den Gedanken, daß darunter auch - mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit - vergessene Verbrecher sind.

Freilich wird Miehling dies nicht als Argument sehen wollen. Denn schließlich sind ja die Spielleute des Mittelalters für ihn auch nichts Anderes als "Gewaltmusiker". Dann aber müssen wir auch anführen, daß auch durchaus berühmte Musiker, die wenig von "Spielleuten" hatten, heute so gut wie vergessen sind: Beispiele für solche "vergessenen Musiker" sind etwa Josef Myslivecek, der zu seiner Zeit bekannter war als sein Zeitgenosse Wolfgang Amadeus Mozart (vgl. Wikipedia: Josef Myslivecek, abgerufen am 30.04.2008), von dem es heute aber deutlich weniger Werkaufnahmen gibt als von Mozart (z.B. Wikipedia: "Il Bellerofonte", abgerufen am 30.04.2008). Robert Volkmann schrieb in den 1860er Jahren einige Stücke, die mit der Schaffenshöhe von Schumann oder Brahms verglichen wurden, ist allerdings bei weitem weniger bekannt als diese (vgl. Wikipedia: Robert Volkmann, abgerufen am 30.04.2008). Carl Czerny, der während seines Lebens über 1000 Stücke für Klavier komponierte, ist heute nur noch für seine "Etüden" bekannt, mit denen seit 150 Jahren weltweit den Klavierschülern die Begeisterung für "ihr" Instrument ausgetrieben wird (vgl. Tarnow 2007).

Es fällt allerdings auf, daß bereits viele der musikalischen "Ausnahmetalente" der damaligen Zeit schon derartige Probleme hatten.

2.4. Ansonsten hat auch die Beatmusik der 1960er Jahre viele klassische Vorbilder. Auch vom dynamischen Abstand her sind Musikstücke aus dieser Zeit der klassischen Musik vergleichsweise ähnlich (vgl. Wikipedia: Full_Metal_Jacket, abgerufen am 05.11.2007). [Heute eher androgyne Männerstimmen, wie in der klassischen Zeit?] Dem Autoren ist auch eine interessante Interpretation des mittelalterlichen Liedes "Amors, merce no sia" für Schlagzeug bekannt (Capella de Ministrers, "Trobadors. Courtly Love in the Middle Ages"). Andererseits wird heutige Musik dafür kritisiert, einerseits sehr laut zu sein und andererseits einen nur geringen dynamischen Abstand zu besitzen (vgl. CD Mastering Services; abgerufen am 05.11.2007).

Dies betrifft allerdings auch nicht nur Rap, sondern auch Country-Musik. Miehling korrigierte mich in seiner Nachricht an mich dahingehend, daß er auch Letztere zur "Gewaltmusik" zählt. Daraus ergibt sich allerdings die süffisante Beobachtung, daß auch Menschen, die nicht gegen herrschende gesellschaftliche Vorstellungen rebellieren (s.o.), durch Musik angeblich zu antisozialen Haltungen "verleitet" werden. Er geht sogar noch weiter und sieht in seiner Nachricht an mich die Spielleute des Mittelalters als "die damaligen Gewaltmusiker", und auch die Interpretationen der Alten Musik, die heute nach Jahrhunderten wiederentdeckt wird, all zu stark durch die heutige Musik gefärbt seien. Allerdings kann man sich eine Vorführung mit Stücken von Lully kaum anders als ausgesprochen wuchtig und laut vorstellen (vgl. Wikipedia: Jean-Baptiste Lully, abgerufen am 24.04.2008; Beispiel "C'est lui dont les dieux ont fait choix" aus „Isis“), und mag man wiederum annehmen, daß international bekannte Interpreten wie Paul van Nevel, Jordi Savall oder Gabriel Garrido sich durchaus seit Jahrzehnten Gedanken über die historische Aufführungspraxis machen.

2.5. Daneben waren zu ihrer Zeit Musik und Gewalt sehr viel enger verquickt als heute, da die Machthaber die Sponsoren aufwendiger Kompositionen waren und diese natürlich auch zu Zwecken der Propaganda und Selbstdarstellung nutzten. In "La Pellegrina", einem Gemeinschaftswerk verschiedener Komponisten der Renaissance, das 1589 anläßlich der Hochzeit des Fürsten Ferdinando de' Medici mit der Enkelin des französischen Königs mit großem Pomp bis hin zur völligen Überladung aufgeführt wurde, wurde leidenschaftlich und teilweise sehr schön die "Liebe" der beiden Adligen besungen, die zum Dreh- und Angelpunkt des Universums geworden sei (vgl. Lempfrid 1986). [Wie mir erst später bekannt wurde, hatte Miehling eine Einspielung von "La Pellegrina" sogar selbst rezensiert (vgl. "Concerto - das Magazin für Alte Musik", abgerufen am 14.06.2008)]. Allerdings spielte in der Heiratspolitik des Adels weniger die Liebe eine Rolle als vielmehr die politischen Vorteile, die man sich aus einer Verbindung erhoffte: Ferdinando hatte entsprechend seinen Bruder dafür verachtet, daß der aus Liebe eine "unbedeutende Frau" geheiratet hatte, und mutmaßlich beide vergiftet, um deren Platz als Machthaber einzunehmen (vgl. Wikipedia:Franz_I_(Toskana)). Er war nicht einmal bei der Eheschließung selbst zugegen gewesen (vgl. Gaiser 2008, S.2).

Und auch die kunstbeflissenen römischen Kardinäle, die im Februar 1600 Giordano Bruno verbrannt hatten, konnten sich wenige Tage später an der Uraufführung des ersten Oratoriums, Emilio de' Cavalieris "Rappresentatione di Anima e di Corpo" ergötzen. Claudio Monteverdi biederte sich 1637 mit der Hymne "Volgendo il ciel" beim neuen deutschen Kaiser Ferdinand III. an, darin es heißt, der Friedefürst lasse mit seiner eisernen Hand alle Türme und Mauern zu Staub werden und tränke alle Felder mit Blut ("[...] un secolo di pace il Sol rimena [...] Le torri eccelse e le superbe mura / al vento sparse, e fé vermiglio il prato"). Deutschland versank zu jener Zeit in den Greueln des Dreißigjährigen Krieges und der Kaiser ließ sich dafür loben, daran nicht unerheblichen Anteil gehabt zu haben. Auf der protestantischen Seite vergleiche dazu die Motette "Salve Decus Suevorum Rex" von Jacob Praetorius auf den schwedischen König Gustav Adolf, dessen Truppen die deutschen Lande ebenso verhehrten, oder Andrea Gabrielis Hymne "Asia felice" für die Sieger von Lepanto. Kein Zweifel an der künstlerischen Brillanz oder vielleicht schon Genialität all dieser Werke.

2.6. Richard Wagner als "Gewaltmusiker?"

Nicht zu vergessen sind auch die legendären Saalschlachten zwischen den Anhängern von Wagner, Bruckner und Brahms, wobei sich ja offensichtlich erwachsene Menschen wegen musikalischer Fragen geprügelt haben. Dies führt mich zu der Frage, ob nicht auch Richard Wagner ein "Gewaltmusiker" war.

Miehling dementiert allerdings leidenschaftlich, daß es sich z.B. bei den Opern von Wagner trotz der vermeintlich "nordischen" Thematik oder des totalen Anspruchs um "Gewaltmusik" handeln mag (vgl. bei http://www.die-gesellschafter.de; abgerufen am 31.10.2007). Schließlich müßte der Argumentation der Medienkritiker (siehe ) nach die Musik von Richard Wagner verboten werden, da Adolf Hitler Wagners Opern in ihrer Gesamtheit als Quelle seiner Inspiration und zum Teil auch als Handlungsmuster betrachtete: Beispielsweise gibt es deutliche Parallelen zwischen Wagners "Rienzi" und Hitlers Selbstbild und der Inszenierung seines eigenen Untergangs (vgl. Wikipedia: Richard Wagner; Friedländer 1999, abgerufen am 18.04.2008).

a. Was Richard Wagner und sein Werk angeht, so finden sich in der Literatur durchaus widersprüchliche Urteile. Einerseits wurden in Wagners Kompositionen und Schriften immer wieder antisemitische Affekte festgestellt: Schon Friedrich Nietzsche sah Wagner als einen moralischen Giftmischer an, dessen Herrenmenschenattitüde und Antisemitismus man nur "mit kalter Verachtung" ablehnen könnte (vgl. Ferrari-Zumbini 1993, S.139). Nach Hoffmann (2004) hatten Wagner wie Hitler gleichermaßen einen "messianischen wie prophetischen Anspruch" (vgl. S.25). Joachim Köhler stellte in seinem Buch "Der Prophet und sein Vollstrecker" die Meinung dar, ausgerechnet Wagners Antisemitismus sei die ideologische Grundlage für die Nazi-Ideologie gewesen (vgl. Wördehoff 1997). Walther Rathenau, der später von Antisemiten ermordet wurde, hatte im Jahr 1918 bemerkt, daß die Haltungen von Wagners Figuren ihr übriges dazu getan hätten, in den Deutschen eine gewisse Geisteshaltung herzustellen (vgl. Wördehoff 1997). Wagner hatte ein bestimmtes Kunstverständnis an den Tag gelegt, in dem alle Elemente "wie die Glieder des menschlichen Leibes im Dienst eines übergeordneten Willens zusammenwirken". Dies bezog sich auf die Musik wie auf den Text, die Charaktere wie auf die Handlung - so hatte Wagner etwa Giacomo Meyerbeers "Le Prophète" dafür kritisiert, daß der Protagonist Jean de Leyde, der zum selbstherrlichen Diktator wird (vgl. Jan van Leiden, abgerufen am 28.04.2008) nicht als "glorreicher Volksheld", sondern als "armer Teufel" in all seiner Schwäche dargestellt wird und in jener Oper Symbole gebraucht wurden, die von Wagner nicht recht entschlüsselt werden konnten (vgl. Gier 2000, S.261f.). Hans Günther (1994) verstand das Dritte Reich im Anschluß an dieses künstlerische Ideal nunmehr als ein eben solches "Gesamtkunstwerk einer perversen Staatskunst", in dem sich auch alle Formen der künstlerischen Darstellung auf die Ideologie vom Herrenmenschen ausrichteten (vgl. S.259-272; nach Arns 2004, S.44f., Fußnote 109).

Dies ist allerdings auch eine "pars pro toto"-Aussage, handelte es sich beim Antisemitismus, wie er Mitte/Ende des 19.Jahrhunderts auftrat, nicht um etwas Neues, sondern um jahrhundertelang Angelegtes und Fortgeschriebenes. Andererseits wird aber auch hervorgehoben, daß Wagner selbst Liberaler war (vgl. Wikipedia: Richard Wagner, abgerufen am 18.04.2008) und auch Karl Marx rezipierte (vgl. Hoffmann 2004); vor allem diejenigen Charaktereigenschaften als "jüdisch" bezeichnete, die ihn selbst gekennzeichnet haben, etwa Schmeichelei oder einen Hang zum Luxus; er sich entsprechend nicht mit "nordischen" Charakteren wie dem Siegfried identifizierte; andererseits die gesellschaftliche Ausgrenzung der Juden - freilich um den Preis der Auflösung des Judentums "an sich" - beenden wollte, indem er sie etwa verstärkt am Kulturleben beteiligt sehen wollte (vgl. "Wagner und die Juden", abgerufen am 18.04.2008). Viele von Wagners Motiven stellten wiederum genau das Gegenteil der Naziideologie dar: Wagner wollte nicht "staatstragend" sein oder einen "völkischen Kult" begründen (vgl. Gier 2000, S.264). So waren im "Parsifal" die Feldherren Narren oder flehten um Gnade und Erbarmen. Letztlich also mag gelten, daß jede Seite Wagner für ihre Zwecke instrumentalisieren konnte (vgl. Friedländer 1999, abgerufen am 18.04.2008) bzw. die Nationalsozialisten nur eine flache Interpretation angelegt hatten. Zumindest aber mag man Wagner vorwerfen können, daß er eine romantisierende und idealisierende Vorstellung von der Vergangenheit pflegte, die ganz dem damaligen Zeitgeist entsprach (vgl. Wikipedia: Romantik, abgerufen am 18.05.2008).

Ebenso widersprüchlich sind nun die Urteile über die Qualität (vgl. Michaelsen 2000) und die Neuartigkeit seines Werks (vgl. Hoffmann 2002, S.180). James Joyce kritisierte etwa die Handlung von Wagners "Tannhäuser" als "lächerlich" und nicht nachvollziehbar (vgl. Wagners Ideal, s.o.; "Der Dichter und der Sänger: James Joyce und die Musik", "Musikpassagen" vom 25.04.2008), die "Meistersinger" als "schwülstiges Zeug". Wenn auch die Qualität seiner Textproduktion also eher durchwachsen gewesen sein mag (vgl. auch N.N. 1991), so stellt in einem Verständnis nach Bermbach und Gier sein Werk im Vergleich zu vielen anderen Komponisten seiner Zeit ein "organisches Gesamtkonzept" dar (vgl. Bermbach 1994; Gier 2000, S.261), das eine komplexe Struktur besitzt (vgl. ebd., S.267) und eine tiefenpsychologische Deutung anbietet (vgl. ebd., S.271). Während Joyce dann die "Meistersinger von Nürnberg" als "schwülstiges Zeug" verurteilte (s.o.), hatte Wagner selbst sich sinnigerweise gegen den "Schwulst" ausgesprochen und vielmehr den Gebrauch einfacher Muster gefordert, um eine möglichst große Verständlichkeit herzustellen (vgl. ebd., S.263f.).

Zwar stellte Miehling nicht grundsätzlich in Abrede, daß es vor der Neuzeit auch solche "Gewaltmusik" gegeben habe (vgl. ). Allerdings, so schrieb er an mich, prügle sich wohl heute niemand mehr über klassische Musik, während dies bei "Gewaltmusik" ja wohl immer noch der Fall sei. Die Frage wäre dann allerdings, warum man sich damals um klassische Musik prügelte und heute nicht mehr, wenn klassische Musik doch nach Miehling (2007a) zu "Aggressionsarmut" führen soll (S.3). Handelte es sich dabei etwa um die gerne zitierte "Abstumpfung", dann auch die klassische Musik auf jüngere Menschen einen größeren Einfluß haben als auf ältere.

b. Wagner und die "Techno-Szene"

Der Kultursoziologe Winfried Gebhardt fand schließlich, daß die "Techno-Szene" und die vormals stark traditionell orientierte "Wagner-Szene" durchaus verschiedene Gemeinsamkeiten besitzen (vgl. Gebhardt 2001). Bereits die Inszenierung des "Festes" wird von ihm als "Form der Vergemeinschaftung" gesehen, in der die gesellschaftliche Realität aufgehoben wird. Dadurch, daß sie unregelmäßig, ungeordnet stattfinden, sind sie "idealtypisch" auf Ekstase und Genuß ausgerichtet (vgl. Gebhardt 1987; nach Marchetti 2006, S.17). [Hier Befunde aus Gebhardt 2001]

3. Eigenschaften verschiedener Gattungen von Musik bzw. von deren Hörern

a. Nicht einmal der Hörer der "E-Musik" kann Miehlings hohes Ideal an einen kulturbeflissenen Hörer hinreichend erfüllen. Marchetti (2006) sieht das Fest, so auch denn das "Wagner-Festspiel", in seinem rituellen Charakter als einen Rekurs auf vorzivilisatorische Handlungen (vgl. ebd., S.17f.). Folgt man Adornos Hörertypologie, so zeigt sich, daß dieser Rückgriff sich unabhängig von der konsumierten Musik zeigt: Adorno gliederte die Hörerschaft von Musik in verschiedene idealtypische Gruppen. Augenscheinlich am stärksten unterschieden sind hierbei die Gruppen der "Bildungskonsumenten" und der "Unterhaltungshörer". In Adornos Verständnis ist der "Bildungskonsument" natürlich der vermeintlich "gute Zuhörer", der sich etwa an der Oper verlustierte und dies gewissermaßen als einen elitären Wert begriff. Im Gegensatz dazu sehe der "Unterhaltungshörer" Musik als Unterhaltung "und nichts weiter" an (vgl. ebd., S.47) und verlange natürlich nach entsprechender Zerstreuung.

In diesem Zusammenhang interessant ist nun, daß die Hörverständnisse der beiden Gruppen sich nicht nennenswert voneinander unterscheiden. Der "Bildungskonsument" sei weniger an einem Gesamtkonzept orientiert, sondern primär "atomistisch" und an grandiosen Darbietungen und Schauen ausgerichtet - dies eigentlich im Widerspruch zu der Vorstellung Richard Wagners, tue dies aber der Liebe des "Bildungskonsumeten" zu Wagner heute keinen Abbruch - (vgl. Nolte et al. 2002, S.45f.), während sich der "Unterhaltungskonsument" primär berieseln lasse und ebenfalls nur punktuell aufmerksam gegenüber der Musik sei (vgl. ebd., S.49). Dieses in weiten Teilen kongruente Hörverständnis wirke sich auch auf das Kulturverständnis aus: Beide Gruppen unterwürfen die Musik einem reduktionistischen Verständnis. Während die Musikindustrie in ihrem Drängen, die Nachfrage des Massenkonsumenten zu befriedigen oder einen Markt erst zu schaffen, "subkulturelle" Musikrichtungen ohne echtes Interesse an deren Aussagen aufgreife und damit sinnentleere und verarme (vgl. Backmund 2002, S.10) oder - noch schlimmer - Musikrichtungen ohne echte Inhalte kreiere, und der Unterhaltungshörer eben jene sinnleeren Güter unreflektiert konsumiere, stutze der "Bildungskonsument" die Musik auf einer hohen Niveauebene zurecht. Damit unterschieden sich also im Verständnis von Adorno die idealtypischen Hörergruppen nur in Nuancen voneinander (vgl. Nolte et al. 2002, S.47-49; Gebhardt 2006, S.2f.).

Diese Gemeinsamkeit kann man nach Gebhardt (2006) aber auch positiv auswerten: Die Auflösung hierarchischer Schichtungen von Konsumenten und Inhalten sei auch mit der Chance auf eine größere Toleranz gegenüber dem Anderen und dessen Anderssein verbunden. Die Möglichkeit zur Selbstverwirklichung stelle das letzte gesellschaftliche Ordnungsprinzip dar (vgl., S.2f.).

b. Einige Untersuchungen zeigen zunächst einmal gewisse statistische Zusammenhänge zwischen dem Musikgeschmack und bestimmten Charaktereigenschaften und Lebensweisen der Konsumenten. Nach Rentfrow+Gosling (2003) bezeichnen sich Hörer "reflektiver und komplexer" Musik wie z.B. Jazz und Klassik eher als offen für neue Erfahrungen und politisch liberal, Hörer "positiver und konventioneller" Musik wie z.B. Country und religiöser Musik eher als extrovertiert, sportlich und politisch konservativ. Hörer "energiereicher und rhythmischer" Musik wie z.B. Rap und Hip-Hop sich als politisch liberal, extrovertiert, sportlich und körperlich attraktiv sehen. Allerdings liegen die herausgearbeiteten Effektstärken in dem Rahmen, der durch die Charaktereigenschaften der Hörer vorgegeben wird (vgl. S.1241f.+1250). Entsprechend ist hier wahrscheinlicher, daß es sich dabei um Selektionseffekte handelt: So wird sich die politische Gesinnung kaum durch das Hören bestimmter Musik verändern lassen, sondern ist vielmehr im Umfeld erworben bzw. entspricht die Musikauswahl den eigenen Charaktereigenschaften. Daneben muß die Kategorisierung der verschiedenen musikalischen Genres wiederum in Bezug auf andere Untersuchungen relativiert werden (s.u.).

North und Hargreaves führten eine Querschnittstudie mit 2532 Teilnehmern durch, bei der diese zu verschiedenen Themengebieten wie ihrem bevorzugten Musikstil, politischen Einstellungen, Drogenkonsum, Kriminalität etc. befragt wurden. Die Ergebnisse dieser Untersuchung (hier insbesondere 2006a) widerlegten einige der zu Hörern bestimmter Genres aufgebaute Klischees. Insbesondere stellten diese Autoren fest, daß sich die Hörer von Hip-Hop-Musik in mancherlei Haltungen auch nicht allzusehr von Opernhörern unterschieden.

In Anlehnung an North und Hargreaves (2006a) können verschiedene Dimensionen angegeben werden, entlang denen sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den verschiedenen Gruppen zeigen. So können die verschiedenen Hörergruppen nach ihrer politischen Haltung und ihrer Haltung zu gesellschaftlichen Themen, bezüglich krimineller Delikte, Drogenkonsum und Promiskuität/Anzahl ihrer Partnerschaften verglichen werden.

- Was die politische Haltung angeht, existiert eine Teilung "quer durch die Lieblingsgenres". So sollen Country-, Jazz- und Opernhörer zu einer konservativen politischen Haltung, die Hörer klassischer Musik wie von Rock, Rhythm&Blues, Hip-Hop und Rap zu einer eher linken Haltung tendieren (vgl. North und Hargreaves 2006a, S.10; wenngleich die Unterscheidung zwischen Conservative und Labour Party in Großbritannien oder analog zwischen CDU und SPD heute nicht mehr so stark ausgeprägt ist wie noch vor Jahrzehnten, vgl. "UK Parties 2008", abgerufen am 24.10.2008).

- Was gesellschaftliche Themen angeht, scheinen die Hörer von Hip-Hop, Rap etc. tatsächlich eher konservativ zu sein, was etwa ihre Haltungen zu öffentlichen Einrichtungen wie der staatlichen Gesundheitsfürsorge, gegenüber Steuererhöhungen, der Nutzung alternativer Energieträger oder generell Umweltschutzthemen angeht. Sie sind allerdings auch weniger geneigt, Waffengewalt zu nutzen oder Kriegsdrohungen als Mittel der Politik zu sehen (vgl. North und Hargreaves 2006a, S.11). Auch Werten wie Treue oder Ehrlichkeit räumen in verschiedenen Befragungen die Jugendlichen heute hohe Stellenwerte ein.

- Was die Kriminalität angeht, gibt es keine strikte Trennung zwischen den Hörern klassischer und "nicht-klassischer" Musik. Demnach sollen die Hörer von Rockmusik sogar zu den Hörergruppen gehören, die am wenigsten wahrscheinlich schon einmal verhaftet wurden. Die Hörer von Hip-Hop oder Rap-Musik wurden ihrer eigenen Angabe nach zwar häufiger schon einmal verhaftet, allerdings auch nicht häufiger als Blues- oder Country-Hörer (vgl. ebd., S.12f.).

- Von North und Hargreaves (2006a) zwar tabeliert, aber nicht explizit thematisiert wurde der Drogenkonsum der verschiedenen Hörergruppen. So hatte ein mehrfach höherer Prozentsatz der Opern- und Klassikhörer Amphetamine, LSD, Ecstasy oder Kokain konsumiert als z.B. die Hörer von Rock- oder "60er-Jahre-Pop", und unterschied sich der Konsum von sog. "Magic Mushrooms" zwischen Opern- und Hip-Hop-/Rap-Hörern nicht. Was Hip-Hop-, Rap- oder Jazzhörer angeht, so hatten ggf. höhere Prozentsätze bestimmte Drogen konsumiert. Dabei wurde auch festgestellt, daß bestimmte Gruppen bestimmte Drogen besonders häufig, andere aber kaum konsumieren. So hatten etwa die Hörer von Hip-Hop und Rap tendentiell mehr verschiedene Arten von Drogen ausprobiert, allerdings z.B. kaum Heroin konsumiert. Dies wird darauf zurückgeführt, daß bestimmte Drogen eher "szenetypisch" sind, während andere Drogen auch unabhängig von der Zugehörigkeit zu einer Szene "interessant" sein können (vgl. ebd., S.13+S.33f.).

- Miehling hatte weiterhin etwa die Behauptung aufgestellt, daß Hörer bestimmter Genres promiskuitiver seien als andere (). Nach North und Hargreaves (2006a, S.7) hätten nun die Hörer von Hip-Hop und Rap wahrscheinlicher mehr als einen Sexualpartner innerhalb der letzten fünf Jahre gehabt. Dies kann allerdings auch mit dem Alter zusammenhängen, da im Schnitt die Hip-Hopper und Rapper jünger sind als die Hörer von klassischer Musik (vgl. ebd., S.6). Allerdings sind z.B. die Hörer von 60er-Jahre-Beatmusik noch weniger promiskuitiv und gehen im Schnitt wiederum weniger Partner an als die Hörer klassischer Musik (vgl. ebd., S.20).

Allerdings kann man viele der festgestellten Korrelate nicht zu Kausalbeziehungen umdeuten wie etwa, daß Musik Menschen zum Drogenkonsum "verleite". Musik ist sehr stark an bestimmte kulturelle Hintergründe bzw. "Szenen" gebunden (vgl. ebd., S.6), die über bestimte Wertvorstellungen verfügen. Ein archetypischer "türkischer Kiez" wäre demnach zumindest im Klischee durch eine Tendenz zur Frauenfeindlichkeit gekennzeichnet. Dieser "Machismo" wäre allerdings dann nicht Ergebnis der gehörten und gepflegten Musik, sondern liegt im kulturellen Erbe begründet (). Adrian North vertritt schließlich die Haltung, daß Menschen mit Musik nicht dahingehend beeinflußt werden können, daß sie Dinge täten, die sie nicht tun wollten. Es könne aber aktuell ein marginaler Einfluß auf Unentschiedene ausgeübt werden, eine der möglichen Alternativen vorzuziehen (vgl. Molony 2004, S.3).

c. Rap-Musik wurde insbesondere wegen der provokativen Songtexte von Beginn an kritisiert. Auch im "Frontal 21"-Bericht vom 26.06.2007 wurde postuliert, daß es kausale Zusammenhänge zwischen dem Hören dieser Musik und Gewalttaten, Drogenexzessen etc. gebe.

Tatsächlich aber ist Rap-Musik anderen musikalischen Gattungen sehr ähnlich, die in dem Sinne nicht gerade kompatibel zu sein scheinen (s.o.). Armstrong (1993) verglich die Texte von Rap- und Country-Musik und stellte dabei deutliche Ähnlichkeiten zwischen diesen beiden Gattungen fest. So stellen auch Texte von Country-Stücken sehr häufig Themen wie Gewalt, Armut und Männlichkeitsbilder dar. Andererseits gibt es aber einen deutlichen Unterschied in der Bewertung dieser verschiedenen Genres: In Versuchen von Fried wurde ein und derselbe Text als Country- und Folk-Song mit jeweils weißen Sängern von den Zuhörern deutlich positiver bewertet als wenn er als Rap von einem schwarzen Sänger vorgeführt wurde. Dies deutet weniger auf eine objektiv gerechtfertigte als vielmehr auf eine subjektiv motivierte Ablehnungshaltung gegenüber solcher Musik im allgemeinen hin (vgl. Chiashi 2007, S.8).

4. Andere "blutrünstige Texte"

Als eine Quelle besonders blutrünstiger Erzählungen kann die Bibel festgehalten werden. Darin ist zu lesen, daß das Volk Israel in der Vergangenheit benachbarte Völker und sogar Angehörige des eigenen Volkes aus Machtinteressen für nichtige Verfehlungen blutig niedergemacht und ausgelöscht werden. In diesen Geschichten wird immer wieder auch berichtet, daß Heerführer dafür bestraft werden, weil sie einige wenige Menschen oder auch nur das Vieh der zu Feinden Bestimmten verschont hatten.

(Zur Ehrenrettung muß allerdings gesagt werden, daß es keine archäologischen Nachweise dafür gibt, daß es sich beim alten Israel um eine besonders aggressive Großmacht gehandelt habe. Im Talmud, dem nach der hebr„ischen Bibel wichtigsten Text der jdischen Religion, l„át sich auch eine Entwicklung aufzeigen, die letztendlich zur Abkehr von "g”ttlich gebotenen" Todesstrafen fhrte (vgl. Wikipedia: Todesstrafe, abgerufen am 08.05.2008). Die religi”sen Texte hatten andere Funktionen, abhängig von der Rolle, in der sich ihre Verfasser sahen. Einerseits sind sie vom Machtstreben einer religiösen Gruppe geprägt, die damit den Einfluß des von ihr vertretenen Gottes Jahwe vergrößern wollte [vgl. , worin seitenlang genüßlich die Strafen ausgebreitet werden, die Jahwe den Israeliten angedeihen lassen werde, sollten sie ihn nicht verehren; im Vergleich dazu nehmen sich die Annehmlichkeiten, die jener Gott seinem Volk angedeihen läßt, geradezu bescheiden aus]. Andererseits sahen sich die Verfasser aber auch in der Rolle von Sorgern eines beständig bedrängten Volkes und versuchten, eine glorreiche Vergangenheit und die Hilfe des geglaubten Gottes zu konstruieren, um dem Volk Mut für aktuelle Krisensituationen zu vermitteln. So heißt es etwa im Buch Esra, zu der Zeit, als die "babylonischen Gefangenschaft" beendet gewesen sei und den Juden erlaubt wurde, ihre von den Babyloniern ruinierten religiösen Stätten wieder aufzubauen, seien die Bücher Mose "aufgefunden" worden [], und konnte bereits in antiker Zeit nachgewiesen werden, daß das Buch Daniel, das jahrhundertealte "Prophezeiungen" über den griechischstämmigen Herrscher Antiochus IV. zu enthalten schien, mit dem man sich im Krieg befand, in Wahrheit zu dessen Lebzeiten geschrieben worden war [].)

Nun konnte in Versuchen tatsächlich nachgewiesen werden, daß das Lesen der Bibeltexte zu einer höheren Bereitschaft führte, aggressive "Problemlösungen" in Erwägung zu ziehen. Der Mechanismus, der hierbei zum Tragen kam, war allerdings die Rechtfertigung der Gewalt durch eine Autorität, hier also die "göttliche" Rechtfertigung. Das reine Lesen über die Greueltaten - so wurde für Kontrollgruppen die göttliche Rechtfertigung entfernt bzw. die Namen der handelnden Personen verändert - führte nicht zu einer Steigung der Gewaltakzeptanz (vgl. Dawkins 2006, S.255-257).

5. Die "fiktive Lebenserwartung" von "Gewaltmusikern"

Eine andere "Argumentation", die Miehling anbringt, bezieht sich auf die vermeintlich niedrigeren Lebenserwartungen der "Gewaltmusiker". So behauptet Miehling, daß bei einer Untersuchung der Lebensdaten von 766 "populären Musikern" diese nur ein durchschnittliches Alter von 45.4 Jahren erreichten, 48mal so häufig an illegalen Drogen stürben und 96mal so oft ermordet würden wie im Bevölkerungsdurchschnitt üblich (vgl. Miehling 2008, S.3f.). Er behauptet in seinem "Gewaltmusik-Nachrichtenbrief" Nummer 29 vom 30.April 2008 (vgl. Miehling 2008c, S.), daß Todesursachen wie Verkehrsunfälle auf Drogenkonsum schließen ließen, und daß angeblich vergleichsweise hohe Mordraten auf eine Verstrickung zur kriminellen Szene hindeuteten.

Als "Beweise" für die Schädlichkeit des Lebenswandels von Musikern bringt allerdings dann an, daß zwei Musiker im Alter von 40 bzw. 41 Jahren an Krebs, ein 45jähriger an einer Nervenkrankheit und ein 34jähriger nach einem Verkehrsdelikt von der Polizei erschossen worden sei. In anderen Ausgaben seines E-Mail-Newsletters hatte Miehling auch schon süffisant darüber referiert, daß Musiker etwa in einem Pool ertrunken, an Meningitis gestorben, von einem Auto überfahren oder von einem Amokläufer oder einem Autodieb erschossen worden seien (vgl. Miehling 2008a, S.5+47+57). Viele dieser Fälle sind natürlich eindeutig - wie früher behinderte Kinder - auf einen unmoralischen Lebenswandel zurückzuführen. Wenn ein Musiker, der betrunken gegen die Tür seines Nachbarn hämmerte, von diesem erschossen wurde (vgl. Miehling 2008b, S.38), dann hatte er natürlich selbst die Schuld, nicht aber sein Nachbar oder etwa Gesetze, die Jedem erlaubten, einen Anderen umzubringen, durch den er sich bedroht fühlte (vgl. "Castle Doctrine"/"Stand Your Ground Law"; Sebok 2005, abgerufen am 30.04.2008). Und was den Fall des 34jährigen Rappers Freddy "Latee" Wilson angeht, der bei einer Verkehrskontrolle von der Polizei erschossen wurde, nennt Miehling nicht die Umstände: Zunächst war berichtet worden, der Rapper habe sich mit vier Polizisten eine Schießerei geliefert. Allerdings hatte er nach Zeugenaussagen keine Waffe bei sich gehabt, habe mit erhobenen Händen dagestanden und sei trotzdem mit mindestens 15 Kugeln durchsiebt worden (vgl. "Conflicting Accounts of Freddie Wilson's Shooting", abgerufen am 30.04.2008). Ebenso starb der von Miehling angeführte Marvin Gaye (vgl. Miehling 2008, S.3) nicht durch Drogen, sondern wurde von seinem Vater erschossen (vgl. Wikipedia: Marvin Gaye, abgerufen am 19.07.2008). Es ist nachgerade perfide, daß hier ein möglicher Fall von polizeilicher Überreaktion oder sogar Willkür als "Beweis" für die Schädlichkeit eines gewissen Lebenswandels angesehen wird.

Andererseits sind viele der Assoziationen, die Miehling aufführt, einfach oberflächlich. So ist "Gras"/Marihuana nicht primär mit Reggae assoziiert, wie Miehling hier Harry Shapiro zitiert (vgl. Miehling 2008, S.3), sondern mit der Religion des Rastafarianismus. Bei den Rastafaris gehört der Konsum zu ihren Ritualen (vgl. Wikipedia: Rastafari, abgerufen am 19.07.2008), genauso wie etwa in der katholischen Kirche das Verbrennen von Weihrauch, der übrigens ebenfalls psychoaktive Substanzen enthält (vgl. Wikipedia: Weihrauch, abgerufen am 19.07.2008).

In der Vergangenheit gab es auch andere derartige "Studien", mit denen versucht wurde, eine vermeintlich geringere Lebenserwartung von "Gewaltmusikern" zu "belegen". Die Methode, die dort verwandt wurde, war, eine "fiktive Lebenserwartung" für die bereits gestorbenen 100 von 1064 betrachteten (also das durchschnittliche Sterbealter der bereits gestorbenen) Musiker zu berechnen. Danach sei die Todeswahrscheinlichkeit von "Gewaltmusikern" in jungen Jahren doppelt so hoch wie bei normalen Menschen. Die Lebenserwartung für nordamerikanische Musiker betrage demnach 41.78 Jahre, die für europäische 35.18 Jahre. An 27% der Todesfälle seien Alkohol oder Drogen beteiligt gewesen (vgl. Bellis et al. 2007). In diese Betrachtung gingen allerdings natürlich nicht die Lebensalter der Musiker ein, die noch am Leben sind. Unter dieser "fiktiven Lebenserwartung" wären Musiker wie Johnny Cash oder Ike Turner, die über 70jährig starben, oder Chuck Berry oder Little Richard, die ebenfalls schon weit über 70 sind (Stand: 30.04.2008), um Jahrzehnte zu alt geworden. Andererseits stirbt man im Alter bis 65 Jahre heute im Vergleich seltener an Herzkrankheiten oder Krebs - die über die Gesamtbevölkerung gesehen die Haupttodesursachen darstellen -, so daß andere Todesursachen sehr viel stärker ins Gewicht fallen. So sterben auch etwa 25% der männlichen Finnen an den Folgen des Alkoholkonsums ("Finnland: Alkohol häufigste Todesursache bei Männern im erwerbsfähigen Alter", abgerufen am 30.04.2008). Das soll natürlich keine Ehrenrettung für den Alkohol sein, sondern es handelt sich gerade beim Tod durch Alkohol um vermeidbare Todesfälle. Die gescholtenen "Gewaltmusiker" sind allerdings diesen Werten nach auch nicht gefährdeter als der durchschnittliche Mensch in ihrem Alter.

6. Nachsätze

Anekdotisch kann ich etwa berichten, daß ich - sinnigerweise auch durch den schulischen Musikunterricht (wenngleich Notenlesen und Musiktheorie eher dazu geeignet scheinen, das Interesse an Musik abzugewöhnen) in jungen Jahren Gefallen an klassischer Musik gefunden hatte. Entsprechend war ich im Plattenladen auch häufiger bei für mein Alter eher "unkonventioneller" Musik zu finden. Dabei bemerkte ich, daß gleichaltrige und sogar etwas ältere Besucher mich in ihren Gesprächen miteinander bisweilen mit von ihnen für süffisant gehaltenen Kommentaren bedachten, in denen mir etwa Homosexualität unterstellt wurde. Nun ist an Homosexualität aus meiner Sicht nichts Verurteilenswertes, und ich war meiner sexuellen Orientierung hinreichend sicher, mich dadurch auch nicht nennenswert in meiner Ehre tangiert zu fühlen. Da aber in dem Alter für junge Männer häufig wichtig ist, wie sie bei Anderen ankommen können, habe ich mich trotzdem gefragt, ob mein Musikgeschmack nicht auch etwas sein konnte, das mich für das andere Geschlecht unattraktiv machte -- und warum dies so sei. (Meine Angebetete hatte zwar auch Interesse an nicht-so-moderner Musik, aber ihr Herzallerliebster war größer und sportlicher als ich.)

[...]

Alles in allem, sollten wir natürlich Respekt für den jeweiligen Musikgeschmack des Anderen entwickeln. Moderne Musik ist dabei genauso wenig grundsätzlich abzulehnen wie dies bei klassischer Musik der Fall ist. Insbesondere aber sollte nicht versucht werden, einen bestimmten Musikgeschmack aufzuprägen.

7. "Miehlings Konzept als anspruchsvolles kulturbildnerisches Programm"

Auch diese Darstellung soll nicht ohne den Versuch einer synthetischen Perspektive bleiben, denn schließlich mag in einem Angriff auch ein Körnchen Wahrheit stecken. So möglicherweise auch hier, läßt sich daraus eine Kritik am elitären Verständnis ableiten. So wird klassische Musik von vielen Menschen heute als elitär, "versnobbt" bzw. als unverständlich empfunden (vgl. Gaiser 2006, S.).

Allerdings bin ich nicht der Meinung, daß man die Menschen, die sich Klassik nicht anhören, allein dafür verantwortlich machen sollte. Der Begriff der "klassischen Musik" war im Laufe seiner Geschichte in zunehmendem Maße von der Elite der Gesellschaft in Besitz genommen worden, indem diese ihn mit Maßstäben aus der Philosophie, insbesondere aus dem Bereich der Ästhetik verknüpfte. Wolfgang Amadeus Mozart selbst definierte den Begriff "klassisch" noch als "allgemein verständlich", also auch für den unbedarften Hörer zugänglich, definierte und dies unterstrich, indem er etwa auf volkstümliche Tänze und Lieder zurückgriff (vgl. Gaiser 2006, S.51f.). Im Zuge der bildungsbürgerlichen Auseinandersetzung, die für die Musik einen Begriff definieren wollte, der der literarischen "Weimarer Klassik" entsprach, wurde die "klassische Musik" zu etwas "Mustergültige(m)" umdefiniert (vgl. ebd., S.69). Goethe hatte das "Feinvollendete", die "Vollkommenheit der Lebensäußerung", das "Große", das zeitlos ist, oder auch das "Gesunde", als "klassisch" bezeichnet, während er das davon Abweichende, so etwa die Vorstellungen der literarischen Romantik, als "[k]rank" ansah (vgl. ebd., S.41). Es war also hier bereits die Abgrenzung und die Definition des einen als "kultureller Wert", des anderen als "Schund" gelegt worden.

Sei es wie es sei, so sahen die "höheren Schichten" schließlich die Beschäftigung mit der Musik als ihr Privileg an. Die Arbeiterkinder begegneten im gegliederten Schulsystem - das von konservativen Politikern noch heute als ein Erfolgsmodell gefeiert wird - natürlich der Musik nur mehr in Form von Nationalhymne, Märschen und Volkslied. Diese Leerstelle wurde dann natürlich durch andere musikalische Traditionen eingenommen.

Das Miehlingsche Verständnis auf diese Verhältnisse anzuwenden hieße meiner Meinung nach nun, daß ganze Schichten überhaupt ohne Musik hätten leben müssen. Dies haben sich allerdings hierzulande wie in den Sklavenhütten die Schichten nicht gefallen lassen, und entwickelten schließlich eigene Formen des musikalischen Eindrucks. Genau hier versagt er auch gerade wieder, da er auch kein anderes Verständnis an die Musik anlegt. Die klassische Musik ist auch für ihn wieder der "mustergültige" Wert, nach dem sich alles Andere zu richten hat. Gerade diese Haltung ("einer, der alles was Schlagzeug hat oder was nach 1850 komponiert wurde ablehnt" (sic!), zitiert nach Gaiser 2006, S.149) wird von eher "klassikfernen" Menschen teilweise als Stereotyp eines Klassikhörers gesehen und trägt sicher nicht zur höheren Attraktivität klassischer Musik bei. (In dieser Hinsicht leistete die bulgarische Regierung mit einem Gesetzesvorschlag im Jahre 2008 diesem Klischee Vorschub, nach dem in Zukunft Kunst nur noch als "museumswürdig" angesehen werden sollte, deren Urheber seit mindestens 70 Jahren tot sind. Wissenschaftler und Kulturvertreter werteten diesen Vorschlag als radikalen Kahlschlag, der die Museumslandschaft nachhaltig zerstören würde.)

Nun könnte diese Haltung eine "Kinderkrankheit" der Begriffsdefinition selbst sein. Allerdings wäre auch eine "Mustergültigkeit" dieser Art eine Verkürzung, da bereits die beiden literarischen Klassiker Goethe und Schiller unterschiedliche Maßstäbe anlegten, was denn "vollendete(.) Kunst" zu sein habe. Sie verweisen damit eher auf einen kulturellen Pluralismus und verwehren sich dagegen, Dingen nachzueifern, nur weil sie als "mustergültig" angesehen werden. Schließlich war sich Schiller nicht einmal sicher, ob es überhaupt (den Deutschen) möglich sei, "(c)lassische Werke" zu produzieren (vgl. ebd., S.41f.). Würde sich diese Betrachtung eines der "geistigen Überväter" der deutschsprachigen Literatur bewahrheiten, so wäre es überhaupt vermessen, so etwas wie "klassische Werke" weiterhin produzieren zu wollen.

Schließlich lassen sich auch bedeutende Kritiken an dem Begriff des "Klassischen", wie sie heute eher "klassikferne" Menschen formulieren, durchaus mit Haltungen von Geistesgrößen in Einklang bringen. So assoziierte ein 45jähriger Theologe mit klassischer Musik "und böse Blicke derer, die mit Pfefferminz bewaffnet, den Code einhalten" (zitiert nach Gaiser 2006, S.146), oder äußerte der eine oder andere Befragte, daß "klassische Bildung" häufig oberflächliche Blümelei und Fassade sei (vgl. ebd., S.144), und pflichtet denen etwa Herder bei, der Klassik im wesentlichen als "Schulpoetik und [.] Regelzwang" sah (zitiert nach Gaiser 2006, S.141).

Eher klassikferne Menschen haben also ein recht negatives Bild von dem "Klassiker". Er selbst hat jedoch ein ganz anderes Bild. So geben zumindest deutlich mehr klassikaffine Menschen an, klassische Musik sei "modern", "spannend" (vgl. Gaiser 2006, S.158) und der typische Hörer sei ein "ausgeglichener, bewusster, toleranter [...] modern(er), aufgeschlossen(er), freundlich(er) und fröhlich(er)" Mensch (zitiert nach Gaiser 2006, S.145).

Daraus müßte sich aber letztlich auch - gewissermaßen als Neuverortung - eine synthetische Haltung konstruieren lassen: Kulturgut entsteht ja nicht nur in einer Epoche, sondern immer neu, und hat auch nicht allein mit althergebrachten Formen zu tun, sondern kann als Synthese von Altem und Neuem wie auch komplett neu entstehen. Auch in der Vergangenheit hat man nicht nur "bewahrt", sondern war man viel eher auch an immer neuen Werken interessiert, waren auch "feste Größen" wie etwa Bach über Jahrzehnte oder Jahrhunderte so gut wie vergessen (so wurden Bachs Werke erst nach der Wiederentdeckung und -belebung durch Mendelssohn-Bartholdy ein Jahrhundert nach seinem Tod wieder neu entdeckt). Im 19.Jahrhundert entdeckte man ältere Musik auch nicht primär aus einem Trieb nach dem Althergebrachten, sondern nach dem Neuen wieder (vgl. "Vesper: Mittelalterliche Endzeitfragmente", WDR3, 15.11.2008). Und auch nicht alles, was neu geschaffen wird, ist Indikator oder Motor einer "Trivialisierung und Banalisierung" (zitiert nach Gaiser 2006, S.145).

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letzte Aktualisierung: 16.11.2008